Problematische Kommunikation: Patriarchale Wurzeln

Vor zwei Jahren veröffentlichte ich meine ersten Blogartikel „Begegnung auf Augenhöhe“ und „Problematische Verhaltensweisen und Überzeugungen„. Heute resümiere ich, dass sich bisher nichts so sehr bewahrheitet hat wie die Erkenntnisse in diesen beiden Artikeln, und was sie mit dem Patriarchat zu tun haben.

Eine Bemerkung vorab: Meine Artikel basieren auf psychologischen Erkenntnissen, die ich durch meine eigenen Erfahrungen und Reflexionen bestätigt sehe. Es handelt sich hierbei tatsächlich um geltende Naturgesetze. Dass psychologische Erkenntnisse häufig als esoterisch und unwissenschaftlich abgetan und deshalb nicht ernst genommen, belächelt und ignoriert werden, liegt in der Natur der Sache: Es ist schwierig, die menschliche Psyche zu erforschen, weil es lange Zeit nichts zu messen gab, und die Psychologie hat sich in ihrer Entwicklungsgeschichte nicht gerade mit Ruhm bekleckert, wurden Menschen doch auf beschämendste Weise ihrer Würde beraubt, was ganz besonders Frauen betraf. Ihnen wurde zu Anfang die geistige Unterlegenheit gegenüber dem Mann diagnostiziert. Auch das ist selbstverständlich dem Patriarchat geschuldet. Im Grunde kann ein Mensch nur anfangen, sich selbst zu erforschen und die eigenen angelernten Überzeugungsmuster immer wieder an der Realität zu messen und zu überprüfen, und das gilt für Männer wie Frauen. Wer sich darin übt und die eigenen Sinne schärft, wird erkennen, dass vieles, was als wahr und gültig angenommen wurde und wird, korrigiert werden muss.

Mit dieser lange entwickelten Einstellung und offenen Augen sah ich mir ganz genau an, was in dieser Welt gerade passiert und auch passiert ist, und besonders, welche Rolle ich selbst darin spiele und spielte (im wahrsten Sinne des Wortes). Ich musste erkennen, dass ich und alle Menschen dieser Erde und dieser Zeit patriarchalisch sozialisiert und konditioniert sind. Nun, das ist wahrlich nichts neues, es gibt genügend Literatur zur Soziologie des Patriarchats, doch was bedeutet das? Die negativen Auswirkungen betreffen Männer wie Frauen, doch sind die Frauen als die unterdrückte Hälfte der Menschheit wesentlich stärker und prekärer davon betroffen. Selbst diese Tatsache musste ich mir erst einmal bewusst machen, denn ich habe die meiste Zeit meines Lebens geglaubt, ich sei voll emanzipiert und das Patriarchat sei abgeschafft oder löse sich gerade auf, wie auch manche Frauen, die derzeit ein Postpatriarchat postulieren, glauben. Dabei ist das Gegenteil der Fall, wir stecken noch bis zum Hals darin. Was wir tun können, dies zu ändern, ist u. a. die Menschheitsgeschichte neu zu reflektieren, was derzeit einige wenige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in Angriff nehmen, bisher jedoch von der herrschenden Lehrmeinung ignoriert bis diffamiert. Doch damit bringen sie lange geglaubte Irrtümer ans Licht, z. B. die (ideologisch geschürte und irrige) Annahme, es hätte in der Religion immer schon einen Urvater gegeben. Das Gegenteil ist der Fall, die längste Zeit hat die Menschheit die Urmutter verehrt, was archäologisch belegt ist. Auch ist das Dogma widerlegt, es hätte schon immer die heutige Kernfamilie gegeben, also Vater, Mutter, Kind, und dass diese Paarungsfamilie schon in Urzeiten für sich selbst gesorgt und gewirtschaftet hätte, der Mann als Beschützer und Ernährer der in der Höhle hausenden und sich höchstens zum Sammeln nach draussen begebenden Frau. Doch ist dieses Modell weitaus jüngeren Datums und ebenfalls im Patriarchat verwurzelt. Es wird heute als die Norm gelebt als Institution Ehe und ist die staatlich anerkannte und geförderte Lebensform. Dabei ist sie seit Jahrtausenden eine unnatürliche und aufgezwungene Lebensweise, die zu Lasten der Frauen ging. Das Bild des steinzeitlichen Mannes, der seine Frau als Beute an den Haaren in die Höhle schleppt, ist überholt und hat sich als falsch und ideologisch heraus gestellt. Die Menschen lebten friedlich in großen Gruppen mit um die 100 Individuen, es gab keine Hierarchie (also „Herrschaft“, woraus folgt, dass es auch kein „Matriarchat“ gab, also eine „Mütterherrschaft“ als Pendant zum Patriarchat, was „Väterherrschaft“ bedeutet, sondern eine egalitäre matrifokale Gesellschaftsform). Die Fakten dazu sind bestens erklärt bei z. B. Gabriele Uhlmann oder Gerhard Bott, auf die ich hier in diesem Artikel nicht weiter eingehen will, da ich sie mir selbst erst kürzlich angeeignet habe und mir noch längst nicht alle bekannt sind. Das würde den Rahmen meines Posts sprengen. Auch Stephanie Gogolin hat zu dem Thema Matrifokalität gute und klare Artikel geschrieben, weshalb ich sie zum Einstieg bestens empfehlen kann.

Was haben nun die problematischen Verhaltensweisen, die ich immer wieder unter Menschen beobachte, und zwar nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen Frauen untereinander, mit der Soziologie des Patriarchats zu tun? Meine Beobachtung war: Ein liebevoller Umgang von Menschen untereinander ist selten gegeben. Statt dessen sind deutlich sichtbar: Machtstreben, Bedürftigkeit, Verantwortungslosigkeit sich selbst und anderen gegenüber, gepaart mit verletzten Selbstwertgefühlen und Minderwertigkeitskomplexen; das geht bis hin zur psychischen und verbalen Gewalt. Empathie und Mitgefühl sind mit der Lupe zu suchen und selten zu finden. Diese Beobachtung kann jede Frau und jeder Mann machen, doch dazu ist es notwendig, genau hinzusehen (bzw. überhaupt hinzusehen, denn das tun einige selbst bei offensichtlichsten Gegebenheiten nicht).

Erika J. Chopich und Margaret Paul schreiben in ihrem Selbsthilfebuch „Aussöhnung mit dem inneren Kind“ (Ullstein, 1990, 24. Auflage 2007) im Vorwort:

„Unsere Gesellschaft befindet sich in einer tiefen spirituellen Krise, denn wir haben vor Tausenden von Jahren, noch bevor Jesus Christus auf die Welt kam, den falschen Weg eingeschlagen: Wir haben den Kontakt zu unseren Herzen verloren.“

Damit bringen sie das Elend, das in dieser Welt „herrscht“ (wortwörtlich), auf den Punkt, und es kann ergänzt werden: Das Patriarchat ist die Ursache allen Übels auf diesem Planeten seit der neolithischen (jungsteinzeitlichen) Revolution (der Wikipedia-Artikel bedarf dringender Überarbeitung, denn er ist, wie vieles zu diesem Thema, patriarchal kontaminiert). Um das Übel also abzuschaffen, müssen die Menschen wieder lernen, „in Kontakt mit ihren Herzen“ zu gehen. Das beinhaltet nichts anderes, als sich selbst, der angelernten Überzeugungen und Verhaltensweisen, Annahmen und Tabus bewusst zu werden. Nur das, was bewusst ist, kann gesehen und damit auch geändert werden. Wer den Weg in sein Inneres geht, und nur dorthin führt eine wirkliche Veränderung, nicht ins Außen, lernt sich selbst kennen, spüren, fühlen, und erlangt auf diesem Weg die Fähigkeit, andere zu spüren, ein Gefühl und Mitgefühl für sie zu entwickeln.

Die Realität sieht indes anders aus. Die meisten Menschen machen sich nicht die Mühe und sehen auch keinen Anlass, sich selbst zu hinterfragen, sondern werten und beurteilen andere Menschen aufgrund ihrer anerzogenen (unbewussten) Verhaltensweisen und Überzeugungen. Auch ist es üblich geworden, nicht von sich selbst zu reden (dabei kann ein Mensch ja nur von sich, also von der eigenen Perspektive aus, reden), sondern lieber über andere, und auch nicht mit ihnen. Es handelt übergriffig, wer über andere urteilt, die Aussagen anderer be- oder abwertet, im eigenen Sinne interpretiert, ganz genau zu wissen glaubt, wie andere ticken, funktionieren, was sie denken, was bei ihnen los ist und sie aufgrund dieser Annahmen mit einer psychologischen Diagnose kategorisieren. Daraus resultieren nicht selten entsprechende ungefragte und ungebetene Ratschläge. Übergriffe sind eine Eingemeindung anderer Personen in die eigenen Ansichten, Überzeugungen, Standpunkte und Annahmen, kurz: Eine Kolonialisierung.

In welchem System hat Kolonialisierung ihren Ursprung? Im Patriarchat.

Doch wie wollen wir das Patriarchat überwinden, wenn wir selbst ständig dabei sind, uns der ungesunden Praktiken, die zu dem bestehenden (unnatürlichen) gesellschaftlichen System geführt haben, auch im Zwischenmenschlichen zu bedienen? Zeigt es nicht einfach nur deutlich, wie tief wir alle noch im Patriarchat stecken, und zwar unbewusst, und dass die einzige Möglichkeit, sich die Dinge bewusst zu machen und damit zu ändern, das Sich-Hinterfragen ist? Wo wollen wir anfangen, dieses Gesellschaftssystem, das uns allen so massiv schadet, abzuschaffen, wenn wir nicht bei uns selbst anfangen? Ja, bei uns selbst, auch bei dir, der/die du jetzt diese Zeilen liest!

Um Missverständnissen vorzubeugen: Sich die o. g. Verhaltensweisen abzugewöhnen beinhaltet NICHT, keine Kritik mehr üben zu dürfen oder zu können. Kritik an den ideologischen Dogmen der WissenschaftlerInnen, der Kirche, der Politik etc. ist selbstverständlich notwendig und richtig. Ebenso beinhaltet „auf Augenhöhe“ NICHT, dass zwei Menschen denselben Wissensstand haben, oder sogar den selben Erfahrungshintergrund. Jeder Mensch macht eigene Erfahrungen und hat unterschiedliches Wissen und darauf basierend einen eigenen Erkenntnisstand, so dass es in diesen Punkten niemals eine Übereinstimmung geben kann. Wir sind unterschiedlich in vielen Dingen. Doch das Begegnen auf Augenhöhe geschieht zutiefst in dem Wissen und der Überzeugung, dass wir Menschen und auch alle Lebewesen auf diesem Planeten in all ihrer Vielfalt eins sind mit der Natur. Wollen wir die fortschreitende Zerstörung der Natur, des Planeten und all der Spezies darauf stoppen, müssen wir lernen, unsere Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl, die uns im Alltag allzuoft abhanden gekommen ist, zu reaktivieren. Und zwar dringend, bevor es zu spät ist.

Wenn es das nicht schon ist.

Der Täterschutz der deutschen Justiz

Meine Begegnung mit der deutschen Justiz ist schon ein paar Jahre her, und eigentlich (dieses Wort gehört „eigentlich“ aus dem Wortschatz gestrichen) wollte ich mein Erlebnis, nachdem ich es aber dennoch öfters in Kommentaren oder Facebookposts geschildert habe, einfach begraben. Die Reaktionen darauf waren dürftig bis verständnislos, und so ließ ich es tatsächlich irgendwann auf sich beruhen. Erlebt, damit nicht klar gekommen, aber ohnehin nix ändern können, sollte ich also den Deckel drauf legen. Aber ich kann es bis heute nicht, und mir ist auch endlich klar warum.

Jedenfalls lag es nicht daran, dass ich zu empfindlich bin, dass ich Dinge nicht abschließen kann, dass ich nicht „erwachsen“ oder souverän genug bin, mit Niederlagen umzugehen, oder dass ich immer alles auf mich beziehe. Oder dass ich kleinkariert sei oder mir nicht klar sei, dass das, was ich erlebt habe, ein Pipifax ist gegen die Ungerechtigkeiten, die Menschen tagtäglich erleben müssten. Ja, es stimmt, es ist ein Pipifax dagegen. Aber es steht für sehr problematische Strukturen und Handlungsstandards in dieser Gesellschaft. Sie zu durchbrechen kann nur geschehen, wenn sie bewusst gemacht werden. Deshalb erzähle ich hier meine Geschichte noch einmal in aller Öffentlichkeit.

Ich bin verurteilt worden. Eine Verurteilung „nur“ mit Strafandrohung. Keine Vorstrafe also. Dennoch ein gerichtlich gesprochenes Urteil. Ein Urteil, das falsch ist. Denn der wahre Täter kam straffrei davon.

Was war passiert? Ich hatte einen Verkehrsrowdy angezeigt, der auf einer Schnellstraße versucht hatte zu verhindern, dass ich ihn überhole. Er beschleunigte auf der rechten Spur, während ich versuchte, ihn links zu überholen, er bremste mich aus, als ich mich daraufhin hinter ihm auf die rechte Spur begab, und als ich es trotzdem geschafft hatte, ihn zu überholen, rächte er sich durch massives dichtes Auffahren und Drängeln und Schneiden. Das war einfach zu viel, das wollte ich nicht auf mir sitzen lassen und so erstattete ich noch am selben Tag bei der Polizeiwache Anzeige gegen den Fahrer des Fahrzeuges, dessen Nummer ich mir gut gemerkt hatte.

Ein paar Wochen später bekam ich ebenfalls eine Anzeige von ihm wegen Nötigung und Beleidigung. Ich hätte ihm einen Vogel und den Stinkefinger gezeigt. Das wog für die deutsche Justiz schwerer als Drängeln und Ausbremsen und verkehrsgefährdendes Verhalten. Denn das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt mit der Begründung, dass Aussage gegen Aussage stünde, die Aussicht auf Erfolg sei zu gering. Das Verfahren gegen mich schien aber nicht so aussichtslos zu sein, auch wenn die selben Vorraussetzungen galten, nämlich Aussage gegen Aussage. Es gab keine weiteren Zeugen.

Ich legte Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens gegen meinen Gegner ein, die ich aber später zurück nahm auf Anraten meiner Anwältin. Das Gericht lud mich nämlich zu einer Hauptverhandlung ein in Gegenwart des „Zeugen“, also des Täters, vor dem ich aussagen sollte. Schließlich war ich hier die Beklagte. Allein diese Verdrehung der Tatsachen war für mich schlicht nicht zu ertragen, und es ging mir aus anderen Gründen zu der Zeit noch ziemlich schlecht. So zog meine Anwältin „aus taktischen Gründen“, wie sie mir versicherte, die Beschwerde kurz vor der Verhandlung zurück. Sie meinte, das sei richtig so, weil es mir zu der Zeit nicht gut ging. Es war nicht meine Entscheidung, weil ich gerne die Wahrheit klar gestellt hätte. Doch so blieb mir dieser Gerichtstermin immerhin erspart.

Die Entscheidung von der Staatsanwaltschaft bekam ich erst zu erfahren, als das gerichtliche Verfahren gegen mich abgeschlossen war, also ca. ein 3/4 Jahr später. Die Begründung hat mich schlicht umgehauen: Durch meine Rücknahme der Beschwerde gegen das Urteil gegen mich hätte ich die Vorwürfe eingeräumt, und die Staatsanwältin schrieb in ihrer Begründung, dass meine Glaubwürdigkeit dadurch anzuzweifeln ist. Die Strafe besteht also, und die Gerichtskosten musste ich tragen. Fast ein Jahr nach meiner Anzeige.

Dass der Satz „Aussage gegen Aussage“ keineswegs immer gleich ausgelegt wird und warum, ist mir erst in den letzten Jahren klar geworden, als ich mich mit dem in Deutschland vorherrschenden Sexismus beschäftigte, und die daraus resultierende Problematik, dass Vergewaltigungsopfer die Tat nicht anzeigen, weil sie danach massiver Opferbeschuldigung ausgesetzt sind. Es wird ihnen per se Unglaubwürdigkeit und die Absicht unterstellt, den Täter vorsätzlich falsch zu beschuldigen. Vorerst war ich einfach nur irritiert darüber, nun ist es mir klar: Die deutsche Justiz betreibt einen offensichtlichen Täterschutz, besonders dann, wenn der Täter ein Mann und das Opfer eine Frau ist. Dabei muss es sich noch nicht einmal um eine Vergewaltigungstat handeln. Ich bin in diesem Staat verurteilt worden aufgrund einer „Zeugenaussage“, die erstunken und erlogen war und weder von anderen bestätigt noch bewiesen worden ist. Ohne je persönlich befragt worden zu sein, ohne je im Gerichtssaal gewesen zu sein, ohne jemals den Richter kennen gelernt zu haben, der mich verurteilt hat. Nur schriftlich. Ein gelber Brief mit der Post zugestellt verkündete das Urteil, fertig aus.
Wer das noch nicht erlebt hat, der weiß nicht wie es sich anfühlt, wenn an der Tür ein Postbote steht, einen gelben Brief zückt, eine Unterschrift verlangt und dein entsetztes Erstaunen mit den Worten „Da habe ich nichts mit zu tun“ kommentiert.

Aber es wurde stets an meine Gelassenheit appelliert, ich solle es einfach hinnehmen. Dabei kommen die wirklich problematischen Verhaltensweisen immer dann zum Vorschein, wenn ich von meinem Erlebnis erzähle. Es wird abgewiegelt, herunter gespielt, nicht ernst genommen. Meine Anwältin sagte, nach dem ich ihr einmal zu oft meine Fassungslosigkeit kund tat, nun sei es doch mal an der Zeit, damit souverän umzugehen, meinen Sie nicht? Gerade im Verkehrsrecht sei so vieles ungerecht und unklar. „Oder nehmen Sie den Fall Kachelmann, da behauptet so eine Tussi, ‚der hat mich vergewaltigt‘!“ Sinngemäß, aber den letzten Satz sagte sie mit Kleinmädchenstimme. Tja, genau. Tussis, die einfach so eine Tat vortäuschen und sich dann auch noch trauen, diese vorgetäuschte Tat anzuzeigen. Wie abgrundtief hinterfotzig! Und solchen Tussis haben Sie es zu verdanken, dass Sie nicht für glaubwürdig gehalten werden, Sie könnten ja auch so eine sein, wer weiß! Sie wurden zwar verurteilt, aber nicht schlimm, nur wegen Beleidigung, und dann auch nur mit Strafandrohung, falls Sie das innerhalb der nächsten zwei Jahre noch einmal tun. Deal with it.

Pipifax? Nein. Ein Skandal.

 

Das Pro-Prostitutions-Bullshit-Bingo

Heutzutage ist es für die junge Generation der FeministInnen en vogue, sich für Prostitution einzusetzen. Und zwar für Prostitution, nicht etwa nur für die Prostituierten. Die Gründe: Diese brauchen natürlich die Prostitution, um ihrem Beruf nachgehen zu können. Würde die Prostitution verboten oder auch nur der Kauf von sexuellen Dienstleistungen, wäre damit den SexworkerInnen die Lebensgrundlage entzogen. Deshalb versteht es sich von selbst, sich also dafür einzusetzen, dass die SexworkerInnen bessere Arbeitsbedingungen erhalten, dass die Stigmatisierung ein Ende hat und dass selbstverständlich jede Frau das Recht auf Selbstbestimmtheit genießt, wenn es um ihren Körper geht. Das gilt sowohl für die Ausübung als selbstbestimmte SexworkerIn im Prostitutionsgewerbe als auch für z. B. PornodarstellerInnen.

So oder ähnlich wird immer wieder argumentiert. Ich unterstelle den Anhängern dieser Argumente noch nicht einmal, dass sie nicht nur das Beste wollen. Dennoch halte ich all diese Argumente für auf Sand gebaut, denn sie übersehen sehr wichtige Dinge, die für das Zusammenleben von Menschen in einer Gesellschaft elementar sind: Prostitution ist per se würdelos, weil sie Gewalt und Missbrauch von Menschen beinhaltet. Das gilt genau so für die Pornographie.

Doch wehe, man vertritt heutzutage die klare Ansicht, dass Prostitution würdelos und unmenschlich ist: Es ist zwar unglaublich, aber ausgerechnet die, die sich liberale FeministInnen nennen, behandeln eine dann plötzlich wie Aussätzige, Abartige, Kranke. Das geht mit Unterstellungen los, erweitert sich über Schmähungen und Drohungen und hört bei Blocken und Ausschluss nicht auf.

Ich habe hier einmal die Schlagworte, Behauptungen, Projektionen und Unterstellungen gesammelt, mit denen ich mich, seit ich meine Position gegen Prostitution deutlich gemacht habe, immer wieder konfrontiert sehe, und stelle sie gleichzeitig richtig:

  • ProstitutionsgegnerInnen sind alle HurenhasserInnen
    Richtig ist: ProstitutionsgegnerInnen lehnen das System Prostitution ab, nicht die Menschen, die sie ausüben. Im Gegenteil: Indem sie sich dafür einsetzen, das System zu kippen, setzen sie sich automatisch auch für die Prostituierten ein. Das hört die Lobby aber nicht gern, weil sie das System erhalten will, denn es ist gerade in Deutschland ein sehr lukratives Geschäft. Und zwar zuletzt für die unmittelbar Betroffenen, die Prostituierten.
  • Dass es nur wenige selbstbestimmte und zufriedene SexworkerInnen gibt, ist eine Lüge!
    Richtig ist: Höchstens 5-10% aller Prostituierten arbeiten tatsächlich freiwillig und selbstbestimmt und verdienen darüber hinaus auch noch gut. Der weitaus größte Teil lebt in prekären Verhältnissen und will vor allem eines: Raus aus der Prostitution.
  • Ihr wollt nicht mit uns (den ProstitutionsbefürworterInnen) diskutieren? Das zeigt ganz deutlich eure Verachtung für die SexworkerInnen!
    Richtig ist: Diskussionen erwiesen sich immer wieder als frucht- und sinnlos. Das nervt.
  • Der Schwarzer-Feminismus ist rückständig und paternalistisch
    Nein. Er ist etabliert, weitsichtig und setzt sich seit Jahrzehnten für die Gleichstellung aller Frauen in der Gesellschaft ein. Ich betone: Aller Frauen.
  • ProstitutionsgegerInnen sind nur selbsternannte FeministInnen
    Ja, natürlich. Alle FeministInnen sind selbsternannt, haben sich dafür entschieden, sich im Feminismus zu engagieren. Ich kenne jedenfalls keine Instanz, die jemandem die Bezeichnung „FeministIn“ explizit verleiht.
  • ProstitutionsgegnerInnen sind sexnegativ und haben grundsätzlich eine Abneigung gegen oder ein Problem mit Sex
    Richtig ist: ProstitutionsgegnerInnen haben überhaupt kein Problem mit Sex. Nur mit Sex gegen Geld. Sobald Geld ins Spiel kommt, kann von konsensualem Sex keine Rede mehr sein. Das Problem mit Sex haben in Wirklichkeit jene, die glauben, sich erfüllenden Sex kaufen zu können.
  • ProstitutionsgegnerInnen wollen SexworkerInnen bevormunden und „retten“
    Nein. Wollen sie nicht.
  • Sexarbeit ist eine Arbeit wie jede andere auch
    Nein, das ist sie nicht. Das Wort „Sexarbeit“ ist ein schlimmer Euphemismus: Es verharmlost das, was damit gemeint ist: Prostitution. Und Prostitution ist Gewalt und Missbrauch. Viele Prostituierte, besonders viele ehemalige und überlebende, lehnen diesen Begriff deshalb auch vehement ab.
  • Den ProstitutionsgegnerInnen geht es nur um Verbote
    Nein, es geht ihnen um eine Gesellschaft, die ohne Prostitution auskommt.
  • Kriminalisierung, auch der Freier, ist Murks
    Solange dem Markt nicht anders der Sumpf trocken gelegt werden kann, ist es am naheliegensten, jene zu kriminalisieren und zu bestrafen, die den Markt erst möglich machen.
  • Wer Freier kriminalisiert, entzieht den SexworkerInnen die Lebensgrundlage
    Nein, sondern verhilft ihnen, da der Markt immer weniger nachgefragt wird, zu einer realen Chance, aus der Prostitution auszusteigen.
  • Ihr denkt ja alle nur in Schubladen!
    Und ihr erst mal!
  • ProstitutionsgegnerInnen sind ganz arme verklemmte prüde Menschen
    Richtig ist: Sie haben sich viele Gedanken zum Thema Prostitution gemacht, sich intensiv mit dem Thema und auch mit anderen gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Themen beschäftigt, um ein besseres Zusammenleben zu realisieren. Die, die das nicht taten und am System festhalten wollen, sind in Wirklichkeit die ärmeren.
  • Das schwedische Modell hat überhaupt nicht für eine Verbesserung der Lage der SexworkerInnen gesorgt
    Und ob es das hat. Das ist belegt, unstrittig und in den entsprechenden Quellen nachzulesen. Zum Beispiel hier. (Update: Der Link verwies auf einen Artikel von Mira Sigel auf dem Blog „Die Freiheitsliebe“. Die Autorin hat den Blog verlassen, sie war dem übrigen Team zu unbequem, und ihr Artikel wurde dort entfernt. Doch er ist nun hier wieder online.)
  • Für ProstitutionsgegnerInnen sind alle Männer potenzielle Freier
    Nein, denn sie wissen, dass es genug Männer gibt, die nicht im Traum daran denken, zu einer Prostituierten zu gehen oder sich Pornos anzusehen.
  • ProstitutionsgegnerInnen diskriminieren behinderte Menschen, weil sie ihnen das Recht auf Sex verwehren
    Erstens gibt es kein Recht auf Sex, und zweitens spricht es nicht für eine Gesellschaft, in der behinderte Menschen keine Gelegenheiten bekommen, erfüllende Beziehungen aufzubauen, weil sie ihrerseits als minderwertige Menschen diskriminiert werden. Die eine Gruppe diskriminierter Menschen (Behinderte) gegen die andere (Frauen) auszuspielen, gehört zu den menschenverachtendsten Praktiken in einem System, das aufgrund seiner Struktur für Ungleichheit sorgt.
  • Das Recht auf Sex ist ein Menschenrecht
    Nein, das ist es nicht. Kein Mensch hat ein Recht darauf, Sex zu haben, schon gar nicht gegen den Willen eines anderen. Er ist ein Geschenk und auch als solches zu betrachten. Genau wie eine Beziehung und die Liebe.
  • ProstitutionsgegnerInnen sind keine Feministinnen, weil sie anderen Menschen ihre Selbstbestimmtheit absprechen
    Ein immer wieder gern heraus geholtes Totschlagargument. Nein, sie wollen anderen Menschen nicht ihre Selbstbestimmtheit absprechen, weil sie wissen, dass jeder Mensch für seine Taten und Nichttaten selbst verantwortlich ist.
  • Es gibt einen Unterschied zwischen Prostitution und Pornographie
    Ja, und zwar diesen: Pornographie ist vor laufender Kamera aufgezeichnete Prostitution für ein Millionenpublikum.

Mir ist klar, dass ich mit meinen Richtigstellungen nicht die erreiche, die es betrifft. Man wird mir weiterhin Dinge unterstellen, die ich bisher noch nicht einmal geträumt habe, z. B. Heuchelei oder Scheinheiligkeit oder Bigotterie oder ähnliches. Neuerdings wirft man uns, den „radikalen Schwarzer- und AltfeministInnen“, sogar Hatespeech vor. Etwas, gegen das wir selbst auch ständig kämpfen. Aber wir sind der Solidarität anderer Frauen und FeministInnen nicht wert, weil wir die Fehler im System an der Wurzel bekämpfen wollen, anstatt uns mit diesem nur zu arrangieren.

Denn die weniger reflektierten Menschen arrangieren sich nur. Ohne es zu bemerken.

 

Moral ist das Gegenteil von Würde

In den heutigen Gesellschaften und Lebensgemeinschaften wird nach moralischen Werten gemessen, geurteilt oder bewertet. Moral definiert das Handeln nach bestimmten Konventionen und Regeln, die in einer Gesellschaft festgelegt und zum einen per Gesetz definiert sind, zum anderen über kulturelle Übereinstimmungen gelten. Alle Lebewesen einer Gesellschaft werden deshalb moralischen Werten unterworfen, nach denen sie sich zu richten haben und dies erfahrungsgemäß mehr oder weniger tun. Tun sie es nicht, entscheidet eine eigens dafür eingerichtete moralische und rechtliche Instanz darüber, ob und wie schwer sie dafür zu verurteilen sind. Wobei Recht und Moral nicht immer übereinstimmen müssen.

Doch Würde misst sich nicht an äußeren Maßstäben. Für Würde gibt es nur einen Maßstab, und der liegt im Inneren eines jeden Menschen und jeden Lebewesens. Würde ist der Maßstab. Jedes Lebewesen hat Würde inne. Sie ist nicht definierbar, weil sie ist was sie ist, aber spür- und fühlbar. In besonderer Achtsamkeit dem Leben gegenüber und indem es in vollem Ernst und in seiner Ganzheit angenommen wird, kommt Würde am deutlichsten zum Ausdruck. Dazu gehören alle Facetten des Lebens, Stärken, Schwächen, Begabungen, Krankheit, Geburt und Tod.

In dieser Gesellschaft wird aber die Moral mit Würde gern verwechselt, dabei schließen sie sich gegenseitig aus. Dies mag revolutionär klingen, wird heutzutage doch geglaubt, Würde und Moral seien ein und dasselbe oder Ähnliches oder haben direkt miteinander zu tun. Es wird geglaubt, die Moral müsse dafür sorgen, dass die Würde garantiert sei. Gäbe es keine Moral, so wird argumentiert, wäre die Gesellschaft anarchisch und somit würdelos. Doch das ist ein Irrtum: Die Würde ist die alleinige Instanz, die Anarchie im Sinne von lebenszerstörendem Chaos verhindert. Sie ist nicht umsonst in Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland verankert. Doch unabhängig davon, ob in einem Gesetzestext der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht oder nicht: Würde ist uneinforderbar, uneinklagbar und unabsprechbar, denn sie steht automatisch allen Lebewesen zu. Sie ist das, was das lebende Wesen ausmacht, ja, was überhaupt erst das Alleinstellungsmerkmal all dessen ist, was lebt. Der Satz im Grundgesetz ist somit keine Weisung oder Ermächtigung oder Forderung: Er ist schlicht eine Feststellung. Und er steht da, damit wir uns immer wieder daran erinnern.

Kann eine Gesellschaft ohne Moral existieren, wenn sie sich ausschließlich auf die Würde ihrer Individuen stützen würde? Kritiker halten dagegen, ohne Moral gäbe es kein friedliches Zusammenleben, weil alle nur auf den eigenen Vorteil bedacht wären und somit die anderen in ihrem Sinne benutzen oder ausnutzen würden. Fehlende moralische Konventionen würden als Freifahrtschein missverstanden, sich zu „verwirklichen“ und egoistisch die eigenen Interessen auszuleben ohne Rücksicht auf andere. Doch Würde ist kein Freifahrtschein. Menschen, die in Würde handeln, brauchen keine moralischen Regeln, die ihnen sagen, wie sie so zu handeln haben, dass sie anderen nicht schaden. Sie wissen es automatisch, denn die Würde definiert das Sein ohne Bewertungen von außen. Wird das Leben nicht geachtet, wird die Würde verletzt.

Im patriarchalen und kapitalistischen System jedoch ist die Würde der Individuen in höchstem Maße gefährdet und wird tagtäglich auf allen Ebenen des Zusammenlebens verletzt. Im Kapitalismus geht es nicht um Menschen, sondern um Gewinnmaximierung, Marktoptimierung, Warenherstellung, Konsum, Kapitalanhäufung und das ewige Wirtschaftswachstum. Nun wird auch klar, warum die Moral in so einem System gebraucht wird: Weil die Menschen ihrer Würde beraubt werden, und zwar so sehr, dass sie sich ihrer gar nicht mehr bewusst sind. Es fehlt ihnen also der innere Halt, der innere Maßstab, als Mensch in dieser Gesellschaft zu existieren. Sie brauchen statt dessen den Halt der äußeren moralischen Maßstäbe. Es ist logisch: Wo es nur um Geld und Materialismus geht, geht es nicht um die Menschen und folglich auch nicht um ihre Würde.

Das Patriarchat indes sorgt seit tausenden Jahren dafür, dass die eine Hälfte der Menschheit die andere unterdrückt, ausbeutet, benachteiligt, benutzt, zum großen Teil inzwischen unbewusst (und von der Finanzlobby sogar gefördert), da wir alle in diese Welt hineingeboren wurden und somit mit den Konventionen aufgewachsen sind, die wir unhinterfragt verinnerlicht haben. Besonders deutlich wird das bei dem Thema Prostitution. Gerade an der derzeitigen unsäglichen Debatte um die Liberalisierung der Prostitution wird sehr deutlich, dass es mit der Würde in dieser Gesellschaft, in diesem Land nicht sehr weit her ist. Ganz egal, wie sehr die BefürworterInnen behaupten, die Frauen machten ihre „Arbeit“ selbstbestimmt und freiwillig: Sie machen es für Geld. Sie dienen dem Kapitalismus und dem Patriarchat, denn ohne gäbe es die Prostitution gar nicht. Prostitution hat mit Würde nicht das Geringste zu tun. Ich mag das hier nicht weiter ausführen, denn es ist alles bereits gesagt worden dazu.

Mit einem Theologen habe ich letztens darüber diskutiert, inwiefern Werte und Bewertungen im Zwischenmenschlichen wichtig sind. Er hielt es für sehr wichtig, meinte, der Mensch solle sogar sich und andere bewerten und beurteilen, aber dennoch stolz darauf sein was er sei. Dazu sage ich: Stolz ist auch ein Begriff, mit dem Würde gern verwechselt wird, doch er ist eng und beschränkt durch die Anhaftung an moralische Werte. Bewerten und Urteilen setzt immter einen Maßstab voraus. Ist Würde der Maßstab, erübrigt sich ein Bewerten.

Es gibt keinen Wert außer Würde. Es reicht zu sein.

Bewusstsein und Wachheit

Jemand bescheinigte mir letztens, dass zwischen mir und ihm die Augenhöhe nicht gewährleistet sei, weil ich ihm auf bestimmten Themengebieten einen anderen Status als meinen eigenen zugeschrieben habe, in diesem Fall schlafend, während ich mich selbst dort als wach erlebe.

Ja, es stimmt. Die Augenhöhe ist in dem Fall nicht gegeben. Ich habe gelernt, dass es manchmal so ist, dass Augenhöhe dort nicht möglich ist, wo der Bewusstseinsstand zweier Menschen auf bestimmten Gebieten unterschiedlich ist. Das ist aber gar keine Wertung. Schlafend bedeutet ja nichts schlechtes, es bedeutet nur, bestimmte Dinge noch gar nicht sehen zu können, weil man eben schläft. Schlafen ist auch notwendig. Ohne den Schlaf kann sich ein Mensch nicht erholen, kann nicht träumen, kann keine Kraft schöpfen für die Zeit, in der er aufgewacht ist.

Eine Metapher: Ein Apfel ist auch nicht sofort nach der Bestäubung reif, er muss erst wachsen und Farbe bekommen und Fruchtfleisch ansetzen und Süße entwickeln. Wenn er dann reif ist, fällt er ganz von allein vom Baum. Vielleicht auch, wenn jemand den Baum schüttelt, aber nur, wenn der Apfel reif genug ist.

Jemand, der noch schläft, wird ganz von allein aufwachen. Vielleicht auch, wenn ihn jemand wachrüttelt, aber nur, wenn er wirklich ausgeschlafen ist. Sobald er aufgewacht ist auf einem bestimmten Gebiet, wird ihm dies sofort bewusst. Ein Schlafender ist sich seines Zustandes nicht bewusst. Diesen Moment des Aufwachens kennt jeder, der mal ein so genanntes Aha-Erlebnis hatte, dem vom einem auf den anderen Augenblick plötzlich eine Sache klar wurde. Das ist völlig unspektakulär, aber genau so funktioniert es mit dem Wach- und Bewusstwerden.

Nun hat sich aber eine Sache geändert: Schlafende, unbewusste Menschen können wache nicht erkennen. Aber umgekehrt ist das sehr wohl der Fall. Jemand, dem eine Sache bewusst geworden ist, nimmt unweigerlich einen neuen Standpunkt ein, eine neue Sicht der Dinge. Er hat mehr Weitsicht gewonnen und kann nun Dinge sehen, die er vorher nicht sah und die andere immer noch nicht sehen können bis zu dem Zeitpunkt, an dem auch sie aufwachen.

Leider ist es oft so, dass die Menschen, denen etwas bewusst geworden ist, von jenen, die noch unbewusst sind, dafür diffamiert werden. Bewusste Menschen können die unbewussten durchschauen. Das spüren sie und es ist ihnen unangenehm, weil ihnen dadurch Spiegel vorgehalten werden. Sie können und wollen aber (noch) nicht ihr eigenes Spiegelbild ansehen. Sie wissen auch nicht, dass bewusste Menschen ihnen nur ihr eigenes Verhalten oder ihren Zustand spiegeln, sie wissen nicht, dass sie nur ihr eigenes Spiegelbild betrachten. Oft ist dieser Anblick für sie schwer zu ertragen, denn es ist der Teil von sich, den sie an sich selbst verachten und verurteilen. Deshalb weisen sie es weit von sich und projizieren diesen Anteil, dieses Defizit, auf die Spiegel um sich herum. Es ist also für bewusste Menschen oft sehr unschön, unbewussten Menschen ihre eigene Unbewusstheit, ihr eigenes Schlafen, zu spiegeln, weil sie sehr oft heftigen Abwehrreaktionen ausgesetzt werden. Nur selten reagieren Menschen mit Innehalten, Einkehr und Einsicht und werden so selbst zu bewussten Menschen.

Ein konkretes Beispiel dazu: Jahrelang war ich Mitglied einer therapeutisch geleiteten Frauengruppe. Durch diese wurde ich immer bewusster, erkannte ich immer mehr mich selbst, konnte meine angelernten Überzeugungen erkennen, hinterfragen und schließlich ablegen. Ich konnte Dinge aktivieren und reaktivieren, die ich mir niemals hätte träumen lassen.

Den anderen Frauen ging es sicher in ihren Bereichen auch so. Nun kam aber die Zeit, in der ich spürte, dass ich die Gruppe nicht mehr brauchte. Ich merkte, nun habe ich Laufen gelernt und ich kann jetzt allein gehen. Als ich so darüber nachdachte, tauchte vor meinem inneren Auge ein Bild, eine Art Vision auf. Ich sah mich und die anderen Frauen in der Runde auf einer grünen Wiese, doch jede von uns saß in einem Käfig. Bei der einen war die Tür einen Spalt offen, bei der anderen war sie noch fest zu, wieder eine andere rüttelte an der Tür, und bei einer war die Tür weit offen, aber sie saß noch drin. Nur ich war schon aus dem Käfig herausgekommen und stand neben ihm. Ich sah noch einmal in die Runde und wendete mich dann ab, dem weiten Horizont entgegen.

Dieses Bild war nichts anderes als eine Metapher für den Ist-Zustand der Gruppe, bzw. meinen eigenen Zustand innerhalb der Gruppe. Ich beschrieb das Bild an einem Gruppenabend zusammen mit meiner Erklärung, nun aufhören zu wollen.

Die Reaktionen waren heftig, sehr heftig zum Teil, und ich hatte nicht mit ihnen gerechnet. Der Hauptvorwurf, den ich mir anhören musste, war der, wie ich so vermessen sein könne, sie in Käfige zu stecken. Eine bescheinigte mir, wie arrogant und überheblich ich doch sei und wie anmaßend, die ich doch selber im Käfig säße, so etwas zu behaupten. Für mich war das der letzte Abend in dieser Gruppe gewesen, ich ging nie wieder hin.

Später fragte ich mich, ob es richtig war, meine Vision zu erzählen oder ob ich sie lieber für mich behalten hätte. Es hätte für mich sicher ein angenehmeres Ende bedeutet. Doch heute denke ich, es war gut, dass ich sie erzählte, denn jede hatte nun die Chance, sich mit diesem Bild auseinander zu setzen. Hätte ich es nicht geschildert, hätten die anderen Frauen von ihrem Zustand weniger gewusst. Denn Fakt war: Nicht ich hatte die Frauen in die Käfige gesteckt, sie saßen schon drin! Ich beschrieb einfach nur, was ich sah. Dafür, dass die anderen in ihren Käfigen saßen, waren sie selbst verantwortlich.

Ich selbst weiß heute, dass ich, wenn das Leben mir übel mitspielt, gern wieder freiwillig in meinen Käfig setze, um mich zu schützen. Doch wenn die Großwetterlage sich gebessert hat, komme ich auch wieder hervor gekrochen ;-).

#Aufschrei, Feminismus und Solidarität – ein Jahresrückblick

Als es Anfang des Jahres der Hashtag #aufschrei bis in die Medien und die Initiatorinnen in die Talkshows dieser schafften, erwachte in mir der Feminismus. Auch dieses Blog ist ein Resultat davon. Die Erlebnisse des alltäglichen Sexismus tausender Frauen, nicht nur getwittert unter dem Hashtag, sondern noch detaillierter geschildert auf www.alltagssexismus.de, erschütterten mich zutiefst, denn mir wurde zum ersten Mal sehr deutlich und schmerzlich bewusst, was es wirklich heißt, in dieser Gesellschaft eine Frau zu sein. Eine Frau zu sein, ihr Frausein auszuleben als Mutter zweier Kinder; die Spagate, zu denen sie gezwungen ist, wenn sie die Lebensbereiche Berufsleben und Familie unter einen Hut zu bringen versucht. Zu erkennen, welche Art von Hindernissen ihr im Weg standen, die nichts, absolut nichts mit meiner Qualifikation zu tun hatten. Mir fielen immer mehr Erlebnisse ein, die belegten, dass ich mich jahrzehntelang abstrampelte, um in dieser Gesellschaft als Mensch und Frau anerkannt und respektiert zu werden, was aber in ganz vielen Fällen nicht gegeben war. Dennoch glaubte ich daran, eine emanzipierte Frau zu sein, denn ich habe Abitur machen und studieren können in einem männlich dominierten Bereich. Ich arbeitete sogar zeitweise als Schichtleiterin in der Produktion chemischer Stoffe, was nur einer von hundert Ingenieurinnen gelingen dürfte. Ich stand meine Frau in dem rauen Arbeitsklima fast nur unter Männern und sah mich deshalb keineswegs als unterprivilegiert an, sondern längst als gleichberechtigt und auf Augenhöhe mit meinen männlichen Kollegen, Vorgesetzten und Schichtarbeitern.

Dass ich mir in die Tasche log, belegen diese Tatsachen: Mein männlicher Kollege der anderen Schicht verdiente trotz völlig gleichwertiger Qualifikation und gleicher Aufgaben mehr Geld. In dem rauen Arbeitsklima ging es höchst sexistisch zu, was ich aber ausblendete. Versuchte ich, meine Autorität durchzusetzen, galt ich nicht als souverän, sondern hysterisch. Anstatt sich meinen Anweisungen zu fügen, johlten die Arbeiter vor Hohn. Einer hat mich mal, weil es in einem Kessel eine Verpuffung gab und er daneben stand und sich sehr erschrocken hat (die Situation war nicht gefährlich und ich konnte gar nichts dafür), mit übelsten Schimpfwörtern angeschrien, mich bedroht und beleidigt. Ich erwog eine Verwarnung, die mir jedoch von meinen Vorgesetzten ausgeredet wurde, man wolle schließlich keinen Streit, und sicher war es ja auch kaum der Rede wert. Ich bin sicher, die Sache wäre für diesen Arbeiter weniger glimpflich ausgegangen, wäre ich ein Mann. In erster Linie deshalb, weil man mir dann eher geglaubt hätte anstatt mir als Frau von vornherein zu unterstellen, da wohl etwas missverstanden oder emotional überreagiert zu haben.

Später als Ehefrau und Mutter war ich anderen Diskriminierungen ausgesetzt, und ich nenne sie heute so, weil sie es sind. Ich wollte es nur lange Zeit nicht wahrhaben.

Feminismus war also nie mein Thema. Ich erinnere mich sogar an diesen Schlagabtausch im Fernsehen von Verona Feldbusch mit Alice Schwarzer, wo ich eindeutig auf der Position von Verona Feldbusch stand, nicht auf der von Schwarzer, weil ich sie vertrocknet und gestrig fand. Heute sehe ich sie in einem ganz anderen Licht. In meinem Leben war Feminismus also nie Tradition, für mich ist er neu. Mein Feminismus wird demnächst ein Jahr alt.

Ich gehöre also gar nicht zu den so genannten Alt-Feministinnen, sondern ich bin einfach eine ältere Frau, die spät zum Feminismus gefunden hat. Dennoch werde ich wohl, gerade von den „jungen Feministinnen“, in diese Schublade gesteckt, wobei ich noch nicht einmal weiß, was das eigentlich bedeutet. Was ist an Alt-Feministinnen denn so verachtenswert? Dabei gab es mal eine Zeit, in der ich diesen jungen Frauen sehr dankbar war, dass sie den in dieser Gesellschaft verankerten Sexismus aufzeigten und sichtbar machten (und bin es immer noch, nicht, dass jetzt Missverständnisse aufkommen!). Es gab eine Zeit, da folgte mir auf Twitter sowohl @marthadear als auch @Faserpiratin, @totalreflexion und @vonhorst. Irgendwann, so in der Sommerzeit, wurde ich dann von einigen wieder verlassen. Zu der Zeit war ich nicht in der Stimmung, mich intensiv mit feministischen Themen auseinander zu setzen. Doch es kam der Herbst, und mit ihm der Appell von Alice Schwarzer gegen Prostitution, den ich erst gar nicht so richtig mitbekam. Als ich ihn realisierte, fühlte ich mich sofort angesprochen und verlinkte oft dahin. Dass mich daraufhin viele meiner FollowerInnen, von denen ich bis dahin viel hielt, entfolgten, hat mich zunächst nur irritiert. Ich hatte doch nur deutlich meine Position gegen Prostitution verlauten lassen, warum entfolgten mich denn jetzt ausgerechnet die FeministInnen?

In einer Gruppe auf Facebook schrieb ich ziemlich enttäuscht und ernüchtert diesen Satz: „Wenn Feminismus bedeutet, sich für die Prostitution einzusetzen, distanziere ich mich ganz eindeutig davon“. Daraufhin wurde ich dort angegriffen, mir wurde unterstellt, mich nicht solidarisch mit meinen „Schwestern“ in der SexworkerInnenszene zu zeigen, und von einer bekannten und viel bloggenden Feministin wurde ich öffentlich zurecht gewiesen, wie ich mit meiner Einstellung doch pauschal die ganze Prostitution und mit ihr die Prostituierten verteufeln würde. Auf Twitter sah ich mich immer öfter auch Angriffen der Prostitutionslobby ausgesetzt. Für mich war das schlimmer zu ertragen als die Beleidigungen und Beschimpfungen der Maskutrolle unter #Aufschrei und führte am Ende dazu, dass ich meinen Account aufgab, mir einen neuen anonymen zulegte und nur noch geschützt twittere. Ich twittere geschützt für die wenigen FollowerInnen, die meine Ansichten teilen und verstanden haben, nicht mehr öffentlich, um mich nicht mehr den Angriffen auszusetzen. Mundtoter geht es eigentlich gar nicht. Aber es gibt ja noch dieses Blog.

Doch jetzt werde ich euch, den „jungen FeministInnen“ (wer sich angesprochen fühlt, ist gemeint), mal die mir eingeforderte Solidarität ein für alle Mal um die Ohren hauen. Denn eure eigene ist keinen Pfifferling wert. Ihr wollt also den wenigen SexworkerInnen, denen es mit ihrem „Beruf“ gut geht und die sich nicht ausgebeutet fühlen, nicht die Solidarität verweigern, dafür aber allen anderen Frauen, die nicht eure Ansicht teilen, sich aber die ganze Zeit für eine bessere Gesellschaft mit Hilfe von feministischen Gesichtspunkten eingesetzt haben? Alle Frauen, die ich jetzt als eindeutige Gegnerinnen der Prostitution kenne, steckt ihr in die Schublade #notmyfeminism? Und ihr scheut euch auch nicht davor, diese Frauen sogar zu blocken und sie damit genau so zu behandeln wie die schlimmsten Maskutrolle? Ja, habt ihr denn immer noch nicht begriffen, dass Feminismus und Prostitution gar nicht zusammen gehen können, dass es ein Widerspruch in sich ist, sich einerseits feministisch zu engagieren, aber andererseits die Prostitution gut zu heißen? Wann merkt ihr endlich, dass ihr euch an der Person Alice Schwarzer festbeißt und ihr immer wieder unterstellt, mit ihrem Appell nur ihr kleines Buch promoten zu wollen? Merkt ihr denn wirklich nicht, dass sie genau für die Sache kämpft, für die ihr auch kämpft, dies aber schon viele Jahrzehnte länger und wesentlich weitsichtiger und reflektierter? Merkt ihr nicht, dass ihr all den Frauen, die sich im Zuge der #Aufschrei-Debatte mit euch solidarisierten, ihre Geschichten auf alltagssexismus.de veröffentlichten, sich mit euch engagierten, dem Sexismus dieser Gesellschaft endlich Einhalt zu gebieten, Unrecht tut, in dem ihr sie jetzt einfach ausgrenzt, ignoriert und ihr Engagement nicht mehr wertschätzt? Merkt ihr nicht, dass ihr der Prostitutionslobby auf den Leim gegangen seid und damit eure eigene viel versprechende Bewegung unterwandert und ad absurdum geführt, kaputt gemacht habt? Habt ihr denn wirklich gar nichts gelernt und begriffen? Statt dessen faselt ihr von Selbstbestimmung und freiem Willen und seht nicht, dass es in der Prostitution weder das eine noch das andere gibt. Ihr glaubt mir nicht? Dann lest doch einmal die reflektierten und sehr klugen Worte dieser ehemaligen Sexworkerin.

Ich fühle mich von euch jedenfalls nicht mehr repräsentiert. Ich will eine Gesellschaft ohne Prostitution, und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sie möglich ist, nämlich genau dann, wenn sowohl das Patriarchat als auch der Kapitalismus abgeschafft sind. Ich halte diese beiden Systeme für die Ursache der Prostitution. Aber ich bin da nicht die einzige. Es gibt mit mir noch viele tausende Menschen, die genau das auch wollen und sich zumindest bis dahin, bis sich mit Patriarchat und Kapitalismus die Prostitution ganz von allein erledigt hat, für ein Verbot einsetzen. Mindestens jene, die den Appell von Alice Schwarzer unterschrieben haben und denen nicht nur von der Prostitutionslobby der gesunde Menschenverstand abgesprochen wird, was mich in dem Fall nicht die Bohne kümmert. Sondern ausgerechnet und fatalerweise von jenen, deren Solidarität ich mir mal sicher war. Was mir in dem Fall einfach nur weh tut.

Das Konzert

Sigrid

Die Mozart-Messe sollte vor dem Konzert heute noch einmal geprobt werden. Sigrid, Sopranistin und für diese Messe als Solistin engagiert, machte sich an diesem Sonntag deshalb schon früh auf den Weg in das Dorf der ländlichen Umgebung ihrer Heimatstadt, wo das Konzert in der Dorfkirche stattfinden sollte. Sie freute sich immer sehr auf ihre Konzerte, war aber auch jedes Mal mehr oder weniger nervös. Es ist immer eine ganz besondere Sache, vor einem Publikum zu stehen und schwierige Arien zu singen. Sigrid hat dies schon viele Male gemacht, sie gilt als eine souveräne und gefragte Konzertsopranistin. Dennoch, das Lampenfieber machte ihr immer wieder zu schaffen.

Heute kam noch hinzu, dass sie sich erschöpft fühlte von einem anstrengenden Seminar, das sie an den beiden Tagen zuvor absolviert hatte. Spät nach Hause gekommen, fand sie nicht sofort ins Bett, sondern suchte noch bis weit nach Mitternacht Entspannund bei einem Fernsehkrimi und leider nicht nur einem Glas Rotwein. Dabei wusste sie ganz genau, dass Alkohol vor einem Konzert kontraproduktiv ist, da er die Schleimhäute austrocknet. Tee wäre besser gewesen, reichte ihr aber an dem Abend nicht, um herunter zu kommen.

So kam sie heute also mit ziemlich gemischten Gefühlen am frühen Nachmittag in der Kirche an. Nicht nur, dass ihr die letzte Arie in der Mozart-Messe bevorstand, denn die war ganz besonders schwierig zu singen und ging zweimal bis zum hohen C, sie fühlte sich überdies übernächtigt und kraftlos. In diesem Zustand konnte sie nicht mehr dafür garantieren, dass ihr Gesang ganz ohne Abstriche sein würde, und das machte sie noch nervöser als sonst.

Die Kirchentür stand offen, der Konzertleiter und einige Orchestermusiker waren schon anwesend. Bepackt mit ihrer Tasche, die die üblichen Utensilien wie Thermoskanne mit Kräutertee, Schminktäschchen, Halsbonbons und Haarspray enthielt, in der anderen Hand die Tüte mit den Auftrittsklamotten und Pumps, platzierte sie sich in die vorderste Reihe. Kalt hier. Den Mantel behielt sie erst einmal an. Kälte und Müdigkeit, prima Voraussetzungen für sängerische Höchstleistungen!

Dem Dirigenten sagte sie, dass sie ihre Arie jetzt in der Probe nur andeuten und das c“‘ für das Konzert aufsparen würde. „Jajaja, völlig klar!“ entgegnete er hektisch. Die anderen Solisten waren inzwischen auch eingetroffen, gegenseitiges fröhliches Begrüßen. Das Orchester war bereits am stimmen, der Chor trudelte ein und nahm auf den Stühlen platz. Gleich im ersten Satz, Kyrie, hatte Sigrid schon Solostellen zu singen, die wunderbar zum Einsingen geeignet waren, denn dieses hatte sie sich heute erspart, um ihre Kräfte zu schonen. Sie wusste, dass das ein Risiko darstellte, denn mangelndes Einsingen konnte dazu führen, sich später fest zu singen. Das würde heute nicht passieren, redete sie sich ein.

Dagmar

Heute war Sonntag, und Dagmar hatte vor, sich etwas Kultur anzutun. In der Lutherkirche im Dorf sollte Mozarts Messe in c-Moll aufgeführt werden. Darauf freute sie sich ganz besonders, denn sie liebte die letzte Sopranarie „Et incarnatus est“, weil sie so schön getragen im langsamen Tempo daherkam, aber nicht ohne schwierige Koloraturen für die Sängerin und dem hohen C. Die Sopranistin, die diese Arie singen würde, kannte sie schon von früheren Konzerten und war ihr durch den stimmschönen Gesang und Souveränität bestens vertraut. Mit Sicherheit würde es auch heute wieder ein musikalischer Hochgenuss werden.

Voller Vorfreude machte sie sich auf einen schönen Spaziergang durch das spätherbstliche Dorf zur Kirche. Überhaupt waren bei diesem Konzert hochrangige Solisten dabei, geleitet wurde es vom im Umkreis sehr bekannten und beliebten Kantor Alf Gerschnitt. Seine Kantorei stand für immer wieder beeindruckenden Chorklang, begleitet von Orchestermitgliedern der Symphoniker und Philharmonie der nahegelegenen Großstadt. Sie hatte sich schon früh um eine Karte gekümmert, denn seine Konzerte waren fast immer ausverkauft.

Sigrid

Die Probe verlief problemlos. Ihre große Arie am Ende der Messe wurde nur kurz angestimmt, dann begaben sich alle Beteiligten in den Gemeindesaal des neben der Kirche liegenden Gemeindehauses. Hier war wenigstens gut geheizt, und Sigrid setzte sich fröstelnd an eine Heizung, um sich aufzuwärmen. Sie nippte an ihrem Kräutertee und verspürte auf einmal großen Hunger. Hatten die Chorleute nicht Kuchen mitgebracht? Nein, anscheinend war dies bei diesem Chor keine Tradition. Die Chorleute saßen nur an den Tischen und tranken mitgebrachten Tee oder Kaffee wie sie selbst.

Die anderen Solisten hatten sich zerstreut. Nur der Tenor saß in ihrer Nähe und kämpfte mit seinem Schnupfen, der ihn über Nacht angeflogen hatte. Das Sängerleben zu dieser kalten Jahreszeit war hart. Vor der Tür sah sie die Mezzosopranistin eine Zigarette rauchen, und der Bass wanderte auf dem Parkplatz mit dem Handy am Ohr auf und ab.

Dagmar

Dagmar kam etwas zu früh bei der Kirche an, so spazierte sie noch ein bisschen um die Kirche herum, auch wenn es ungemütlich und kalt war. Es war noch kein Einlass. Sie sah zum nahegelegenen Gemeindehaus hinüber, man konnte durch die verglasten Türen ins Innere sehen. Die Sopranistin, die sie so sehr schätzte, saß dicht gedrängt an einer Heizung und trank etwas aus einer Thermoskanne. Oh je, sie wird sich doch hoffentlich nicht erkältet haben? Dagmar konnte sich vorstellen, dass es manchmal ganz schön hart sein musste, Sängerin zu sein, besonders in dieser Jahreszeit, wo die Erkältungskrankheiten die Runde machten. Doch Sigrid Greve wäre bestimmt nicht hier, wenn es ihr schlecht gehen würde, sagte sich Dagmar. Dann ging sie zuversichtlich zur Kirche hinüber, wo jetzt die Konzertbesucher durch die offene Kirchentür hineinströmten.

Die Karten waren numeriert, und sie hatte sich einen Platz direkt hinter der Brüstung auf der Empore gesichert, wo es den besten Überblick und auch das beste Klangerlebnis geben würde, das wusste sie. Es war nicht sonderlich warm in der Kirche, denn diese war ziemlich groß und entsprechend hoch die Heizkosten. Alle Gemeinden mussten sparen. Sie zog ein Sitzkissen aus ihrer Tüte hervor, legte es auf den unbequemen Kirchenstuhl und mummelte sich in froher Erwartung auf ihrem Platz ein. Das Konzert würde in etwa zwanzig Minuten beginnen, so las sie noch ein wenig im Programm, betrachtete eingehend den Altar mit den Podesten, wo die Sitzgelegenheiten und Notenständer für den Chor und das Orchester aufgebaut waren. In der Mitte vor dem Podest stand ein ganzes Equipment an Mikrofonen. Es würde also auch wieder eine Aufnahme gegen, wie schön! Eine Freundin von ihr, die im Chor mitsang, würde ihr sicher eine besorgen können.

Sigrid

Kurz vor Beginn des Konzertes versammelten sich die Solisten und der Konzertleiter in der Sakristei der Kirche, um von dort aus den Kirchenraum zu betreten. Sigrid hatte sich noch im Gemeindehaus umgezogen, um danach, in Abendkleid und Pumps, über das rauhreifbedeckte rutschige Kopfsteinpflaster zu stöckeln. Bei Minus drei Grad war das kein Vergnügen, und warm war ihr immer noch nicht. Deshalb presste sie jetzt gerade fest ihre Stola um ihre Brust. Sie stand vor der Sakristeitür, durch die sie gleich als erste gehen würde, gefolgt von Mezzosopran, Tenor, Bass und Dirigent. Ein tiefes Einatmen, warten auf das Ersterben der Kirchenglocken. Alf nickte kurz, dann öffnete sie die Tür, und die Solisten betraten den hell erleuchteten und feierlichen Altarraum der Lutherkirche unter dem freudigen Beifall des Publikums.

Dagmar

Die Kirchenglocken verstummten, eine erwartungsvolle Stille trat ein. Dann öffnete sich die Tür der Sakristei, und die Solisten, angeführt von Sigrid Greve, betraten den Raum. Was sah sie auch wieder gut aus! Ihre etwas füllige Figur in ein schmales Samtabendkleid gehüllt, mit einer beeindruckenden roten Stola verziert, ein Augenschmaus! Aber auch die Mezzosopranistin, die ebenfalls eine wundervolle Arie zu singen hatte und auch ein Duett mit Sigrid Greve, sah toll aus in ihrem nachtblauen Abendkleid. Voller freudiger Erregung applaudierte Dagmar, dann trat Stille ein.

Sigrid

Sigrid nahm auf ihrem Stuhl vor Chor und Orchester platz, schlug ihre schwarze Mappe mit den Noten auf und warf einen Blick in das Kirchenschiff. Die Kirche war proppevoll und bis auf den letzten Platz besetzt, auf der Empore drängten sich die Leute bis in die letzten Reihen. Kein Wunder, denn wenn Alf Gerschnitt zu seinen Konzerten rief, waren sie fast immer ausverkauft. Normalerweise hätte sie sich darüber gefreut, doch heute überkam sie ein ungutes Gefühl. Sie merkte, wie das Lampenfieber in ihr hochkroch. Eigentlich kein Grund, in Panik zu geraten; diesmal aber war eine undefinierbare und irrationale Angst dabei. Als wollte sie sie abschütteln, lächelte sie dezent in das Publikum.

Der Dirigent stellte sich auf das Podest ans Pult, schlug die Partitur auf und bedeutete dem Chor, aufzustehen. Ein kurzer Moment der Konzentration, dann gab Alf Gerschnitt den Einsatz für den Beginn der Messe. Das Orchester spielte, der Chor fing an zu singen, und nach zwei Minuten erhob sich Sigrid ebenfalls für ihre Soloeinlage im Kyrie. Obwohl auch diese Passage keineswegs leicht zu singen war, musste sie doch einmal vom tiefen a gleich zwei Oktaven hoch zum a“ springen (typisch Mozart), sah sie es als willkommenes Einsingen. Aber sie merkte, wie ihr unter dem Abendkleid die Knie zitterten, wie sie sich schwach und kraftlos fühlte und überhaupt nicht in der Lage, ihre Musikalität voll auszuleben. Egal, sie war schließlich Profi. So bewältigte sie ihre Passage in gewohnter Qualität, was ihr wieder Mut machte.

Auch das Duett mit der Mezzosopranistin und das Terzett mit dem Tenor verliefen reibungslos, doch sie fühlte sich trotzdem immer unwohler. Sie hätte gestern Abend auf den Wein verzichten sollen, denn nach dem Terzett spürte sie einen deutlichen Kloß im Hals, und der Mund wurde immer trockener. Das Terzett war anstrengend, aber bis zu ihrer Arie im Credo hatte sie eine längere Zeit zum Pausieren. Doch ihre Angst vor der großen Arie wuchs. Was, wenn nun das hohe C wegblieb? Nicht auszudenken! Sie kratzte ihren letzten Rest Contenance zusammen und ertrug stoisch die sich ins Endlose ziehende Zeit. Sie versuchte sich abzulenken, in dem sie das Publikum beobachtete. Die Leute lauschten gerade andächtig und ergriffen den Chorklängen. Fast neidisch dachte sie daran, wie entspannt jeder dort einfach nur der schönen Musik lauschen konnte. Der Chor war wirklich gut, und Alf gab am Dirigentenpult wieder alles. Sie sah, wie ihm bei seinen großen Bewegungen die Schweißperlen von der Stirn spritzten. Ihr dagegen war eher kalt als warm, und sie zitterte unmerklich.

Doch endlich war der große Moment gekommen. Die letzten Klänge des Credos verhallten. Nun intonierten die Streicher, Querflöte, Oboe und Fagott ihre Arie, und die Sekunden verstrichen immer langsamer bis zu ihrem Einsatz. Dann begann sie endlich zu singen: „Et incarnatus est… de Spiritu Sancto…“ soweit so gut. Nun die Läufe, am Ende ein lang ausgehaltenes hohes g, kostete viel Kraft… uff, geschafft! Die Phrase zuende gebracht, prima. Nun die Wiederholung mit dem hohen C… das c kam. Auch das h danach. Super, die nächsten Läufe, geschafft, das zweite hohe C, auch geschafft! Nun nur noch die Kadenz. Sie fing an zu singen und… was war das? Was spielte die Oboe denn da? Da bemerkte sie ihren Fehler: Einen ganzen Takt zu früh eingesetzt! Wie konnte das passieren? Um so fataler, als dass sie nur einen Ton über der Oboe sang, was eine krasse Dissonanz zur Folge hatte. Sofort brach sie ab, wollte die Oboe ihren Lauf zuende spielen lassen, um dann richtig einzusetzen, doch die war jetzt auch irritiert und hörte auf zu spielen, so dass die ganze Phrase durcheinander geriet. Was für eine Peinlichkeit! So etwas ist ihr an dieser Stelle doch noch nie passiert!

Irgendwie berappelten sich aber alle, kamen wieder zusammen und führten die Arie ordentlich zuende. Für Sigrid jedoch brach in diesem Augenblick die Welt zusammen. Sie sah zu Alf hinüber, der sie böse funkelnd ansah. Ja, sie meinte sogar ein dämonisches Glimmen in seinen Augen zu erkennen, ein feiner Speichelfaden rann aus seinem Mundwinkel herab. Der Oboist blickte finster über seinen Brillenrand, auch die Flötistin war deutlich not amused und blies einen dicken Kondenswassertropfen aus ihrem Instrument, der dumpf auf den Holzboden klatschte. Überhaupt schien das ganze Orchester sie gerade mit kalter Verachtung zu bedenken. Sie sah kurz hinter sich zu den Chorleuten, die sie blass und entsetzt anstarrten. Erschrocken sah sie zu ihren Solistenkollegen, die sie mit weit aufgerissenen Augen und Mündern starr anglotzten. Vor Entsetzen sah sie nun ins Publikum, das nicht mehr andächtig und entspannt aussah, sondern wie ein Lynchmob, kurz davor, über sie her zu fallen. Bei einigen meinte sie sogar spitze Zähne unter einem hämischen Grinsen hervorblitzen zu sehen.

Völlig paralysiert ließ Sigrid das Ende des Konzertes über sich ergehen, sang noch das Quartett im Benedictus mechanisch mit, sie konnte sich hinterher nicht mehr daran erinnern. Applaus brandete auf, ihr kam er vor wie das bedrohliche Heulen eines herannahenden Orkans, aus dem Hohngelächter ertönte. Blumen wurden übergeben; sie rochen übel. Automatisch nahm sie sie in den Arm und verbeugte sich starr wie eine Marionette lächelnd nach Alfs Anweisungen. Dann stürzte sie aus der Kirche ins Gemeindehaus, zog sich hektisch um, rannte zu ihrem Auto ohne auch noch irgend jemandem in die Augen zu sehen, warf ihre Tasche, die Tüte und den Blumenstrauß auf die hintere Sitzbank und sich selbst auf den Fahrersitz hinter das Steuer.

Nebel hatte sich gebildet. Sie musste vorsichtig fahren, es war glatt und dazu noch schlechte Sicht. Zum vorsichtigen Fahren hatte sie jedoch keinen Nerv mehr. Hektisch ließ sie den Motor des Toyota an, setzte abrupt zurück, fuhr reifenquietschend über den Kirchhof, beschleunigte und fuhr auf die Landstraße in den Novembernebel hinein.

Die Landstraße war kurvenreich und leicht abschüssig. Immer wieder musste sie ihr Tempo reduzieren, um zu sehen, in welche Richtung die nächste Kurve ging, links oder rechts. Trotzdem wurde sie immer schneller, immer verzweifelter. Nie wieder würde sie Alf nach so einem Fauxpas engagieren, sie hatte sich blamiert bis auf die Knochen! Ihre Sängerkarriere war zuende. Was sollte das also alles noch?

Den Fuß fest auf das Gaspedal gedrückt, nahm sie noch in Sekundenbruchteilen den mächtigen Stamm einer Eiche im Scheinwerferlicht wahr, bevor der Toyota ungebremst mit 100 kmh frontal gegen ihn krachte; die Scheinwerfer erloschen in einem Augenblick. Genau wie Sigrids Leben.

Dagmar

Beglückt spazierte Dagmar durch den tropfenden Novembernebel, der sie weiß umhüllte wie ein Wattebausch, zu ihrer kleinen Wohnung zurück. Was war das wieder für ein schönes Konzert! Alf Gerschnitt, so engagiert. Der Chor, große Klasse! Das Orchester, alle Solisten waren klasse, besonders aber wieder Sigrid Greve, die eine so schöne und leichte Höhe hatte, die einfach faszinierend war. Ihre Nachbarin hatte ihr zugeraunt, dass in ihrer Arie irgendwas schief gelaufen sei, aber das hatte Dagmar gar nicht bemerkt und tat dem Gesamteindruck ihres musikalischen Erlebnisses überhaupt keinen Abbruch.

Ein warmes und entspannendes Bad schloss ihren erfüllten Sonntag ab.

W. A. Mozart: Missa in c
Ältere Aufnahme mit Leonard Bernstein, Arleen Auger, Friederica von Stade

Meine paar Worte zur Prostitution

Liebe Prostitutionsbefürworterinnen,

mit diesem Post möchte ich nur kurz meine Sicht auf das Thema Prostitution zum Ausdruck bringen. Und dann nie wieder von einer von euch darauf angesprochen werden.

Grundsätzlich lehne ich Prostitution ab, weil ich sie als ein Symptom des Patriarchats und des Kapitalismus sehe. Ich lehne aber in erster Linie das System ab, weil es für die Ungleichheit zwischen Menschen, explizit Männern und Frauen, Weißen und Farbigen, Reichen und Armen, Gebildeten und Ungebildeten, Hetero- und Homosexuellen und überhaupt Hetero- und Anderssexuellen usw. sorgt.

Ich bin der festen Überzeugung, dass Prostitution nur in diesem System existieren kann. Prostitution ist für mich auch nicht nur das Anbieten von Sex gegen Geld, sondern überhaupt das Ausüben einer Tätigkeit ausschließlich aus der Motivation heraus, dafür Geld zu bekommen. Denn in diesem System ist das Überleben mit dem Erhalt von Geld gekoppelt.

Alles andere, was zwischen Menschen in sexueller Hinsicht zustande kommt, also wo Geld keine Rolle spielt, bezeichne ich schlimmstenfalls als Pornografie, sofern Liebe fehlt. Doch was immer auf beiderseitigem Einverständnis geschieht, hat mit Prostitution nichts zu tun.

Da ich Prostitution ablehne, wird mir derzeit sofort unterstellt, ich wäre auch dafür, diese zu verbieten. Das bin ich ausdrücklich nicht! Ich bin gegen ein Prostitutionsverbot, aber deshalb noch lange nicht für Prostitution.(Update: Ich bin für eine Gesellschaft ohne Prostitution. In meinen Augen ist sie nur durch ein Umdenken erreichbar. Verbote halte ich grundsätzlich für problematisch, egal, auf welchem Gebiet. Dennoch: Ich würde heute, um der Prostitution, ganz besonders der Lobby dahinter, Einhalt zu gebieten, auch für ein Verbot stimmen.) Es liegt mir fern, alle, die mit Prostitution ihr Geld verdienen, zu verdammen. Und ich werte damit auch nicht das Engagement der betroffenen Prostituierten ab, für bessere Bedingungen zu kämpfen.

Ja, ich halte das ganze System Patriarchat und Kapitalismus für pervers. Weil es das Menschsein degradiert, abwertet und in Frage stellt, und nicht nur das Menschsein, auch das Sein aller Kreaturen auf diesem Planeten. Prostitution ist ein Teil davon, und zwar einer der finstersten. Ich glaube daran, gäbe es weder Patriarchat noch Kapitalismus, gäbe es auch keine Prostitution. Denn sie gehört einfach nicht zu einem guten Leben von Lebewesen, die sich auf Augenhöhe begegnen.

Ich bin Musikerin, Sängerin, Künstlerin. Mir liegt nichts, wirklich nichts ferner als anderen Menschen irgend etwas Böses zu wünschen oder zu wollen. Warum also sollte ich mit meinen Aussagen und Erkenntnissen anderen schaden wollen? Das Gegenteil ist der Fall. Wenn ich sie veröffentliche, dann nicht, um andere zu belehren oder ihnen etwas zu unterstellen, sondern um eine Botschaft zu senden in der Hoffnung, sie möge auf offene Ohren treffen. Deshalb schreibe ich hier noch einmal den Satz auf, der mir von einer Frau, die ich bisher sehr schätzte, um die Ohren gehauen wurde:

„Das Benutzen von fremden menschlichen Körpern zur eigenen sexuellen Befriedigung als Dienstleistung zu definieren offenbart in meinen Augen die ganze Perversität des patriarchalen und kapitalistischen Systems.“

Ich überlasse es jetzt meinen Leser_innen, das für sie passende da hinein zu interpretieren.

God moves in a mysterious way.
(Ausschnitt aus Liveaufnahme der Aufführung der Kantate „Saint Nicolas“ von Benjamin Britten; Konzert vom 3.11.2013 in St. Johannis Hamburg-Harburg. Das mache mir erst mal eine/r nach)

Update: Kommentare aktiviert.
Update: Karlsruher Appel gegen Prostitution

Lose Fugen

Ein Kurzkrimi

Sonnabend

Susanne schlendert mit ihrer Tochter Annika den Sandtorkai entlang. Die Hafenrundfahrt haben beide an diesem sonnigen Frühlingstag sehr genossen. Nach einem Besuch in der Miniaturbahn zieht es sie erneut in Richtung Wasser. Sie passieren eine der schmalen Durchgänge durch die Neubauten direkt am Grasbrookhafen. Der Blick öffnet sich auf ein Hafenbecken, in dessen Mitte eine stählerne Skulptur auf dem Wasser schwimmt, ein Kunstobjekt. Annika fragt verwundert: „Was ist denn das für eine komische Boje, Mama?“- „Das ist keine Boje, sondern soll wohl Kunst sein“, entgegnet Susanne.
„Aber dann kann doch gar kein Schiff in den Hafen reinfahren“ wendet Annika ein, belässt es dann aber dabei und hüpft am Geländer entlang Richtung Magellan-Terrassen. Sie hat eine Eisbude entdeckt, die sie magisch anzieht. „Mama, kann ich ein Eis?“ „Ausnahmsweise“. Susanne kramt ihr Portemonnaie hervor. „Zwei Waffeleis mit jeweils zwei Kugeln, Erdbeere und Schokolade“ sagt sie zu dem Eisverkäufer. Ihr Eis schleckend, trödeln sie weiter über die Magellan-Terrassen in Richtung Kreuzfahrtterminal. Annika findet die Mauer mit den Ziegelsteinornamenten, die bei Betrachtung aus der Ferne ein riesiges Fischornament erkennen lässt, so interessant, dass sie hinläuft und die reliefartig hervorstehenden bunten Ziegelsteine mit ihren Erdbeereisbeschmierten Fingern einzeln abtastet.

Doch plötzlich stutzt sie: „Mama, wachsen auf Steinen eigentlich auch Haare?“ – „Haare? Wie kommst du denn darauf? Lass mal sehen, Anni“, antwortet Susanne und geht nun ebenfalls näher an die hübsche Kaimauer heran. Susanne starrt auf die Stelle, auf die Annika zeigt, und tatsächlich, da sind Haare an einem der Ziegelsteine zu erkennen. Allerdings wachsen sie nicht auf dem Stein, sondern lugen zwischen zweien hervor. Als wären sie dazwischen geklemmt. Vielleicht hat sie ein Hund verloren? Susanne versucht sie aus der Ritze zu ziehen, sie klemmen aber fest. Stattdessen bewegt sich einer der hervorstehenden Ziegelsteine. Das kommt Susanne nun aber wirklich komisch vor. Sie packt den Stein mit beiden Händen und zerrt mit aller Kraft daran. Mit einem plötzlichen Ruck löst sich der Ziegel, gleitet Susanne aus der Hand und landet krachend auf dem Boden. Susanne erschrickt, als sie auf die entstandene Öffnung sieht. Außer den Haaren ist nun zu erkennen, worauf sie in Wirklichkeit wachsen: Auf einem halb verwesten Schädel, dessen rechtes Auge den beiden nun aus dem dunklen Spalt entgegen linst. Schnell zieht Susanne ihre laut aufkreischende Tochter an sich. Dann fummelt sie hektisch nach ihrem Handy und wählt zitternd die bekannte Nummer.

Montagnachmittag

Klaus Aschekowski hat heute wieder den Montag nach einer Wochenendschicht hinter sich. Seit die neue Bauingenieurin seiner Kolonne vorsteht, hat er keine ruhige Minute mehr und muss schlimmer ranklotzen als je zuvor. Das allein wäre ja nur halb so schlimm, wenn seine neue Vorgesetzte nicht ausgerechnet jene Schiedsrichterin wäre, die vor Jahren bei dem Spiel Altona 93 gegen den SV Meppen, bei dem Klaus zwei Tore schoss, einen seiner Treffer nicht gewertet hat. Angeblich wegen Abseits. Dabei weiß er doch ganz genau, wie es damals war: Klaus hat gerade eben den Ball mit dem linken Bein im Meppen-Tor platziert, als sein Gegner, Gerrit vom SV Meppen, ihm mit dem rechten Fuß ein Bein stellte. Für Klaus war Gerrit nicht nur eindeutig näher am Tor gewesen, er hat ihn also auch noch im Strafraum gefoult. Und was macht diese blöde Schiri, anstatt Klaus‘ Treffer zu werten? Sie pfeift Abseits! Als er nur daran denkt, kommt ihm wieder die Galle hoch! Er beschleunigt wütend seine Schritte. Ausgerechnet die, ausgerechnet die! Er braucht jetzt dringend sein kühles Holsten, um sich zu beruhigen.

Die Wohnungstür des heruntergekommenen Mehrfamilienhauses direkt neben den Bahngleisen Nähe Bahnhof Elbgaustraße ist nur noch wenige Schritte entfernt. Klaus achtet nicht auf den herrlichen Frühlingstag, auf das erste Grün an den Büschen. Er nimmt den flirrenden Gesang des Rotkehlchens aus einer nahe gelegenen Hecke nicht wahr. Mürrisch wischt er sich eine verschwitzte Strähne seines straßenköterblonden Haarschopfes aus der Stirn und fummelt den Schlüsselbund hervor, der an einem Karabinerhaken an seinem Hosenbund befestigt ist. Erstmal die MOPO lesen, da freut er sich schon drauf. Else, seine Nachbarin mit dem Kater, bewahrt sie nach dem Auslesen immer auf und steckt sie dann in Klaus‘ Briefkasten. Auf der Arbeit im Pausencontainer bekommt er die Zeitung wegen seines horrenden Arbeitspensums kaum noch zu Gesicht, und wenn, dann nur flüchtig die erste und letzte Seite, während gerade einer seiner Kollegen darin schmökert. Er kommt immer zu spät, kann nicht rechtzeitig Pause machen. Deswegen holt er das in letzter Zeit zuhause nach. In Ruhe und mit Holsten Edel.

Der Briefkastenschlüssel versinkt im Schloss, Klaus dreht ihn herum und zieht mit einem Schwung die kleine quietschende Tür auf. Da ist die MOPO endlich. Er schnappt sie begierig, dabei fällt sein Blick auf die erste Seite. Jäh gerät er ins Stocken; ein Schauer läuft ihm über den Rücken. Langsam nimmt er die Zeitung in die Hände und betrachtet fassungslos die erste Seite. „Mysteriöser Leichenfund in Hafencity-Mauerwerk“ schreit die Schlagzeile, aber Klaus‘ Aufmerksamkeit gilt mehr dem Foto darunter. Es zeigt ein großes Loch in einer hohen Mauer mit reliefartigen bunten Ziegelsteinornamenten.

Seiner Mauer.

Langsam schließt er die Briefkastentür wieder und steigt, ohne den Blick von der MOPO zu wenden, den Treppenabsatz zu seiner Wohnung, die erste im Hausflur, hinauf. Während er die ersten Zeilen des Artikels liest, fuchtelt er blind den Wohnungsschlüssel ins Türschloss, öffnet automatisch die Tür und tritt in den nach abgestandenem Rauch muffelnden Hausflur, dessen Wände mit HSV-Postern vollgehängt sind. Heftig gibt er der Tür mit seinem sicherheitsbeschuhten Fuß einen Tritt, worauf sie krachend hinter ihm ins Schloss fällt.

„Die kleine Annika E. (8) aus Marmstorf wollte sich die Mauer genauer ansehen, als sie ein Haarbüschel bemerkte. Ihre Mutter Susanne E. (42) zog einen losen Ziegelstein aus der Mauer und machte die grausige Entdeckung“, las Klaus. „Der Tote steckte hinter der Mauer in einem Hohlraum und war schon halb verwest. Laut Polizeiangaben muss die männliche Leiche mindestens ein halbes Jahr dort gelegen haben. Weitere Einzelheiten zur Identität des Toten teilte die Polizei nicht mit“.

Klaus lässt die Zeitung sinken und verweilt für einen Augenblick schwer atmend in seinem Hausflur. Seine Gedanken rotieren.

Dann bewegt er sich mit zwei Schritten in seine winzige Küche. Er öffnet die Kühlschranktür. Sie gibt den Blick auf ca. 23 braune Flaschen frei, die dort gehortet sind. Eine davon schnappt er sich und schlägt den Kronenkorken mit der flachen Hand an der schartigen Tischkante ab. Hektisch setzt er die Flasche an seine ausgetrockneten Lippen und lässt den Inhalt in einem Zug durch seine Kehle rinnen. Er greift sich eine zweite Buddel und huscht mit vier Schritten in sein spärlich möbliertes Wohnzimmer. Ein altes schwarzes Ledersofa und eine riesige Glotze beherrschen es. Die MOPO wirft er erstmal auf den billigen Couchtisch. Mit zwei Griffen schiebt er den Vorhang zurück und öffnet mit einem Ruck das Fenster, an dem in diesem Moment die 16:42-Uhr-S-Bahn vorbeirauscht. Dann lässt er sich in den neben dem Sofa platzierten abgewetzten Sessel plumpsen, der wie ein Erbstück seines Urgroßvaters aussieht.

Das kann nicht sein, das kann einfach nicht sein. Er fasst sich an seinen Drei-Tage-Bart und nimmt nochmals die MOPO in die Hand.

Klaus ist Maurer. Er ist ein guter Maurer, und das gerne. Deswegen bekommt er öfters Aufträge, die etwas anspruchsvoller sind, manchmal von anderen Firmen, die ihn sich ausleihen wie einen hoch gehandelten Fußballprofi. Diese Parallele gefällt Klaus als leidenschaftlicher HSV-Fan. Ein solcher Auftrag hat Klaus den Bau der Schmuckmauer an den Magellan- und Marco-Polo-Terrassen in der neu entstehenden Hafencity beschert. Sein Auftraggeber war damals nicht seine eigene Firma, sondern die Firma HTG Hoch-Tief-Bau Gadebusch GmbH, die viele Bauprojekte in der Hafencity realisiert. Da kann sie jeden fähigen Facharbeiter gebrauchen, den sie kriegen kann. So auch Klaus, denn er hat ein Händchen für schönen Mauerschmuck. Die Kaimauern der Hafencity-Terrassen wurden vor drei Jahren fertig gestellt, und Klaus ist stolz auf sein Werk. Außerdem hat es ihm einiges an zusätzlicher Knete beschert.

Er weiß also, wie diese Mauer gebaut wurde. Eine Leiche ist ihm allerdings dabei nicht
untergekommen.Das zweite Holsten Edel zischt seine Kehle hinunter, dazu steckt er sich eine Zigarette an. Er zählt eins und eins zusammen und sagt sich, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis die Polizei hier auftaucht. Prompt klingelt es an der Haustür. „Das sind die bestimmt schon, Mist, können die nicht bis morgen warten“, schimpft er bei sich, drückt unwirsch die Zigarette aus, steht auf und öffnet den beiden Polizisten die Tür. Einer von ihnen hält Klaus seine „Hundemarke“ vor die Nase und sagt: „Kriminalkommissar Winterling, das ist mein Kollege Gruhl, dürfen wir ‚reinkommen?“ Klaus tritt einen
Schritt zur Seite und weist mit der Hand in Richtung Wohnzimmer. Die beiden Kommissare betreten das Wohnzimmer und setzen sich einträchtig auf das schwarze Ledersofa, während sich Klaus abermals in den abgewetzten Sessel fallen lässt.

Mit Unbehagen betrachtet er die beiden. Sie sind ihm sofort unsympathisch. Der, der sich Winterling nennt, ist mittelgroßer Statur, untersetzt, mittleren Alters und trägt eine mausgrau-schüttere Haartracht. Der andere ist hohlwangig und schlaksig. „Sie können sich denken, warum wir hier sind?“ hebt Winterling mit dünner Stimme an, während er fahrig ein kleines Notizbuch zückt. „Klar, habe gerade eben von der Katastrophe gelesen“, gibt Klaus zurück und weist auf die MOPO auf dem Tisch. „Es wird sich noch herausstellen, ob das stimmt“, näselt Gruhl arrogant. Klaus rutscht bei diesen Worten unruhig auf der Sitzfläche herum und funkelt Gruhl böse an. „Was soll das denn heißen?“ blafft er. „Was mein Kollege damit andeuten will, ist, dass wir in einem Mordfall ermitteln und Sie für uns einer der Hauptverdächtigen sind“, erläutert Winterling. „So’n Quatsch!“ erwidert Klaus wütend. Winterling fährt unbeirrt fort: „Sie waren maßgeblich am Bau der Mauer an den Magellan-Terrassen beteiligt, also können Sie uns auch sicher sagen, wie die Hohlräume dahinter zustande kamen, in denen man locker Leichen verstecken kann!“ Klaus starrt den Kommissar an, als wäre dieser nicht ganz dicht. „Klar kann ich das! Die müssen sein, damit die Standverschalung später wieder ungehindert ausgeschalt werden kann. Aber deswegen habe ich noch lange keine Leiche darin versteckt! Wer ist der Kerl überhaupt?“ schnaubt Klaus und pocht mit dem Zeigefinger mehrmals auf das Bild in der MOPO. „Das wissen wir noch nicht“, sagt Gruhl. „Sie können sich also nicht erklären, wie eine Leiche da hineingeraten könnte?“ hakt er nach. „Kein Stück!“ flucht Klaus, nimmt einen Schluck aus seiner Bierflasche, steht auf und knallt das Fenster zu. Die S-Bahnen fahren um diese Zeit im Fünf-Minuten-Takt. Dann setzt er sich wieder. Winterling lässt seine dünne Stimme vernehmen: „Frau Aydin kann es sich auch nicht erklären, und doch war sie da. Und jemand, der eine Leiche loswerden wollte, wusste von diesen Hohlräumen.“ – „Frau Aydin? Was hat die denn damit zu tun?“ Klaus zieht erstaunt beim Namen seiner neuen Chefin die Augenbrauen hoch. „Frau Aydin, von der wir wissen, dass sie seit kurzem Ihrer Kolonne vorsteht, war vor drei Jahren für den Straßenbau in der Hafencity zuständig. Ihre Arbeiter waren damit beschäftigt, die Straße über den Magellan-Terrassen zu verlegen, während Sie am Schmuckmauerwerk arbeiteten. Merkwürdiger Zusammenhang, nicht?“ Winterling fixiert Klaus. „Aber ich hab‘ die Tussi da nie gesehen“ wendet Klaus ein. „Sie scheinen keine große Meinung von Ihrer Chefin zu haben“, nölt Gruhl. „Nä, hab ich auch nicht. Die war mal Schiri bei einem Spiel, in dem ich
einen Bombentreffer gelandet habe, und die checkt nicht, dass ich gefoult wurde und dass kein Abseits war! Null Ahnung, die Frau! Überhaupt sollte man Frauen als Schiri verbieten! Die checken nix vom Fußball!“ Klaus echauffiert sich zum x-ten Mal. Die beiden Polizisten sehen sich vielsagend an.

Eine Weile herrscht Schweigen im Raum. Dann fragt Klaus: „Das bedeutet doch, dass Frau Aydin auch unter Mordverdacht steht, oder?“ – „Wir haben mehrere Verdächtige. Frau Aydin gehört dazu, aber Sie auch. Sie sagen, Sie haben keine Idee, wie die Leiche in die Mauer kam, und fürs Erste belassen wir es dabei. Falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, rufen Sie mich an“, sagt Winterling und legt seine Visitenkarte auf den Tisch. „Es ist sicher nicht das letzte Mal, dass wir uns begegnen“, schließt Gruhl die Unterhaltung, während sich die beiden Polizisten genauso einträchtig erheben wie sie vorher Platz genommen haben. „Sie hören bald wieder von uns“, sagt Winterling beim Hinausgehen.

Klaus schließt geräuschvoll die Tür hinter ihnen. Mit gerunzelter Stirn setzt er sich und trinkt langsam sein Bier aus. Erstmal Gedanken sortieren. Dann feixt er sich einen: „Ha, die blöde Kuh hängt da vollmit drin, das gönn‘ ich ihr!“ Doch im nächsten Moment fällt ihm ein, dass das für ihn ebenfalls gilt. Seine Stimmung sinkt auf den Nullpunkt. Er sitzt mit Defne Aydin in einem Boot. Er ist unrettbar verloren.

Montagabend

Im Fernsehen läuft nix dolles. Klaus ist müde und zermürbt, zappt seine Riesenglotze aus. Morgen ist wieder ein harter Tag, noch unerquicklicher als sonst, jetzt mit diesem Mordverdacht im Nacken. Auf den alten Tatort im Dritten kann er sich nicht konzentrieren. Krimi ist sowieso nicht so das Wahre heute, so holt er sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank, zündet seine 37ste Zigarette an und macht sich auf seinem Sofa lang. Er nimmt die MOPO in die Hand und betrachtet das Foto mit der eingerissenen Mauer eingehender. Ihm fällt auf, dass das ursprüngliche Muster der Mauer an vielen Stellen falsch wieder zusammengesetzt worden ist. Der das gemacht hat, hat keine Ahnung von der ausgeklügelten Anordnung der verschiedenen Ziegelsteinarten. Ganz schön stümperhaft, denkt Klaus bei sich. Aber da ist noch etwas, das in ihm ein seltsam unruhiges und doch vertrautes Gefühl weckt. Er kommt nur nicht darauf, was es ist. So beschließt er ins Bett zu gehen. Er wirft die Zeitung auf den Tisch und will gerade aufstehen, als das Telefon schrillt. „Jetzt noch?“ grummelt er genervt. Dabei ist es noch gar nicht so spät, für Klaus‘ Verhältnisse eher früh, halb zehn. Aber er ist so müde und abgekämpft, dass er nur mit Unlust den Hörer abnimmt. „Aschekowski“, nuschelt er hinein. „Hi Klaus, hier ist Georg!“ – „Mensch, du alter Nussknacker, lange nix gehört von dir! Wo hast du dich denn in letzter Zeit ́rumgetrieben?“ – „Viel geschäftlich unterwegs. Aber heute war ein Highlight. Hab‘ ́ne Menge Kohle verdient gerade und hätte Bock, noch ’nen kleinen Zug durch die Gemeinde zu machen, wie isses, kommst mit?“ fragt Georg beschwingt. „Och nö, heute nich mehr! Bin total fertig. Nich nur, dass mir die neue Bauingenieurin in letzter Zeit keine Ruhe lässt, hatte heute sogar Bullenbesuch! Stell dir das mal vor, die halten mich für ’nen Mörder! Weil hinter meiner Mauer inner Hafencity ’ne Leiche versteckt war. Hast das mitbekommen inner MOPO heute?“, fragt Klaus seinen besten Kumpel. „Jo, hab‘ ich gelesen. Wieso deine Mauer? Ach ja, hast ja damals daran mit gebastelt, nech? Und, winkt dir jetzt eigentlich ’ne große Karriere als Stuckateur?“ höhnt Georg genussvoll.

Georg Brettschneider, mit dem Klaus zur Schule gegangen ist und im selben Fußballverein spielte, zieht Klaus gerne mal damit auf, dass dieser mit Herz und Seele seine Maurerlehre durchgezogen hat. Georg war damals mit Klaus zusammen in der Lehre, brach sie aber nach eineinhalb Jahren ab. Weil er Geld verdienen wollte, wie er sagte, und nicht sein Leben lang malochen für ’nen Hungerlohn.

Klaus weiß nicht genau, wovon Georg eigentlich lebt, jedoch ahnt er, dass Georg hier und da mal ein krummes Ding dreht. Auch wenn Georg sich nie genau äußert, so sind seine „Geschäfte in der Auto- und Genussmittelbranche“ Klaus mehr als suspekt. Doch Georg schmeißt gerne die Runden nach den HSV-Spielen. Irgendwie hat er immer Geld dabei. Das macht die Ausflüge mit ihm und Matze, Klaus‘ zweitbestem Kumpel, immer unbeschwert und ausgelassen, muss Klaus doch nicht jeden Cent in der Hosentasche umdrehen. So hinterfragt Klaus Georgs Lebensunterhalt nicht weiter.

Georg will Klaus also auch heute Abend wieder einladen, doch seine Protzerei versetzt Klaus einen Stich. Dieser Stich veranlasst ihn zu erwidern: „Jedenfalls hat der Kerl, der die Leiche da eingemauert hat, von Schmuckmauerwerk nicht die geringste Ahnung. Das kann ich eindeutig besser, und ich habe damals gute Knete für gute Arbeit gekriegt. Allein wie der manche Steine gesetzt hat, unglaublich. Einfach die Ziegel zerhauen und schief und krumm inne Lücke gestopft. Mörtel ohne Ende verschwendet. Kommt mir fast so vor, als wenn der seine Lehre im Lotto gewonnen hat…“.

Klaus hört noch, wie Georg am anderen Ende der Leitung kurz die Luft scharf einsaugt, doch dann unterbricht dieser ihn schnell: „Wat is nu, kommst nun mit oder nich? Matze kommt auch und wartet im Bahnhofseck auf uns. Ich komm dich abholen, ok?“ Dieses OK duldet keinen Widerspruch, und so sagt Klaus: „Also gut, noch auf ein Bierchen. Bis gleich!“ – „Bis gleich!“ antwortet Georg kurz und legt ohne ein weiteres Wort auf. Müde und verwirrt legt Klaus den Hörer auf die Gabel des 80er-Jahre- Telefons, seufzt und verzieht sich stirnrunzelnd in seine winzige Nasszelle.

Zehn Minuten später klingelt es. Klaus nimmt seine Jeansjacke und die Schlüssel, drückt auf denTüröffner und geht, während er das Summen der Haustür unten hört, ins Treppenhaus hinaus und lässt seine Woh nungstür hinter sich zufallen. Mit wenigen Schritten ist er draußen auf der Straße. „Hi“, sagt er zu Georg. Klaus kommt es so vor, als ob er ungeduldiger wartet als sonst; er wirkt irgendwie nervös. Georgs grüne Augen funkeln im Licht der schmutzigen Straßenlaterne, fast ein wenig bedrohlich. Klaus muss unweigerlich an Moritz denken, den Nachbarskater, der letzte Nacht unversehens durch das defekte Küchenfenster in seine Wohnung eingedrungen war und ihm einen Besuch mit unsauberer Hinterlassenschaft abgestattet hat. Georg erwidert Klaus‘ Begrüßung mit einem leicht angespannten Lächeln. „Lange nicht gesehen, altes Haus, was?“ sagt Georg und klopft ihm freundschaftlich mit der Hand auf die Schulter. „Jo“, erwidert Klaus, wobei er sich eines leichten Schauders nicht erwehren kann.

Im selben Moment wird ihm plötzlich klar, dass seine unguten Gefühle ihn nicht getäuscht haben. Ihm fällt schlagartig ein, was ihm an dem Mauerfoto so bekannt vorkam: Diese unregelmäßig zerhauenen Ziegel und der viele Mörtel, das hatte er schon einmal gesehen! In der Maurerlehre. So sahen die meisten gemauerten Arbeiten seines Mitlehrlings und besten Kumpels aus. Die von Georg.

Doch diese Erkenntnis, so blitzartig sie über Klaus auch hereinbricht, kommt einen Sekundenbruchteil zu spät.

Sein Arm wird rasant gepackt und auf den Rücken gedreht, dann spürt er den kühlen Stahl einer scharfen Klinge an seiner Kehle. „Ganz ruhig, Kumpel“, zischt Georg ihm ins Ohr, „wir beide machenjetzt mal eine kleine Reise. Ich lad e dich exklusiv dazu ein!“ – „U…u..und Matze? Kommt der g…g…gar nicht mit?“ stammelt Klaus verzweifelt, während Georg ihn unmissverständlich in Richtung eines nagelneuen BMW X5 drängt. Klaus wehrt sich, hat aber keine Chance. Georg ist ihm Statur- und kräftemäßig überlegen. „Matze weiß gar nicht, dass wir zwei verabredet sind, also mach dir um den mal keine Sorgen“, raunt Georg und schubst Klaus mit diesen Worten durch die Beifahrertür des großen Sport-Utility-Vans. Er drängelt ihn brutal hinter das Lenkrad, ohne die Klinge nur einen Zentimeter von Klaus‘ Hals zu bewegen und setzt sich schwungvoll neben ihn auf den Beifahrersitz.

Ein Autoschlüssel wird Klaus vor die Nase gehalten. Georg sagt: „Bist der erste, der meine neue Kutsche fahren darf. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen. Anschmeißen, das Baby! Ich sach schon, wo es lang geht. Und immer schön nach vorne auf die Straße gucken, dann piekst auch nix!“ Klaus lässt brav den Motor an, kuppelt ein und gibt Gas. Der schwarze Luxusgeländewagenverschnitt setzt sich rasant durch die stillen Straßen von Eidelstedt in Bewegung.

Dienstagmorgen

Defne Aydin wacht eine halbe Stunde vor dem Weckerklingeln auf und fühlt sich wie gerädert. Doch sie kann nicht mehr schlafen, also beschließt sie, heute vor der Arbeit noch eine Runde zu joggen. Das würde ihre trüben Gedanken vertreiben, die sie seit dem Besuch dieser beiden unsympathischen Polizisten gestern Morgen hegt. Die haben sie doch glatt unter Mordverdacht gestellt! Als ob sie mit dieser Mauer was zu tun gehabt hätte. Ihre Leute waren damals damit beauftragt, die Straße, die über diese Mauer führt, zu errichten. Woher sollte sie denn wissen, wie viele Betonverschalungen sich dahinter verbergen? Das war Sache ihres Kollegen, der eine Reihe von Leiharbeitern  beaufsichtigte, die damals mit dem Bau der Mauer beschäftigt waren. Außerdem war sie zu der Zeit im Urlaub und hat gar nicht im Einzelnen mitbekommen, wie sie entstand.

Sie quält sich aus dem Bett und schlüpft in ihre Joggingklamotten. Dann verlässt sie, schon trabend, ihre kleine Wohnung im ersten Stock und schlägt die Richtung in den Wald ein. Während des Laufens lässt sie sich das Programm ihres bevorstehenden Arbeitstages durch den Kopf gehen. Da ist zunächst die Einweisung der Klempnerkolonne, die heute mit dem Einbau der sanitären Einrichtungen im ersten Rohbau beginnen soll. Dann geht es weiter mit dem Ausheben des Kellergeschosses des Neubaus in der Querstraße. Für zwei Häuser ist schon das Fundament gelegt, die ersten Wände können hochgezogen werden. Sie wird wieder einiges von ihren Jungs abverlangen müssen. Es sind tüchtige Arbeiter. Besonders angetan ist sie von dem Maurer Klaus Aschekowski. Der arbeitet schnell, zuverlässig und präzise und hat darüber hinaus auch noch ein geschicktes Händchen für handwerklich anspruchsvolle Arbeiten. Belastbar ist er darüber hinaus auch noch und stets willig, Wochenendschichten zu übernehmen. Doch seine ständig nörgelnde Art geht ihr manchmal auf die Nerven. Wenn er doch nicht immer so schlechte Laune hätte! Fast kommt es ihr so vor, als ob er ihr persönlich gegenüber einen Groll hegt. Natürlich kennt sie die grundsätzliche Ablehnung und Ambivalenz der Männer ihr gegenüber, wenn diese mit ihr als weibliche und dann auch noch türkische Vorgesetzte konfrontiert werden. Damit umzugehen ist nicht immer leicht. Doch bei Klaus Aschekowski will das Eis einfach nicht brechen. Aber was will sie? Solange er seine Arbeit so macht wie bisher, soll sie doch zufrieden sein!

Wieder zuhause, duscht und frühstückt sie schnell, kramt ihre Sachen zusammen und verlässt eilig ihre Wohnung. Etwas die Zeit aus den Augen verloren, sie muss sich beeilen. Zum Glück ist heute kein Stau auf den Elbbrücken. So parkt sie ihren Fiat Punto rechtzeitig auf dem Handwerkerparkplatz und begibt sich zügig in den Container, in dem sich die Bauleitung befindet. „Moin!“, begrüßt sie ihren Chef. „Moin!“ erwidert er freundlich, fügt dann aber schnell hinzu: „Hat sich Herr Aschekowski bei Ihnen gemeldet?“ – „Nein, warum?“ fragt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. „Er ist heute Morgen nicht zur Schicht erschienen, die Kollegen vermissen ihn. Kennt man sonst gar nicht von ihm, ist doch einer der zuverlässigsten.“ – „Das ist schlecht, ich brauche ihn heute dringend bei den beiden Stadtvillen! Da sind wir sowieso schon im Verzug. Ich ruf‘ den jetzt mal an!“ – „Tun Sie das! Denken Sie an den Termin. Ich zähle auf Sie!“ Mit einem Augenzwinkern und einem leichten Klaps auf die Schulter verlässt ihr Chef den Container. Sie ärgert sich. Können die Kerle es denn nicht endlich mal lassen, sie immer wie ein kleines Mädchen zu behandeln?

Defne schnappt sich das Mobilteil, kramt die Kartei heraus, sucht und findet Klaus‘ Nummer und wählt. Es tutet siebenmal, achtmal, neunmal…niemand hebt ab. Sie wählt die angegebene Handynummer. Das Handy ist ausgeschaltet.

„Mist, wie erreiche ich den Kerl nun bloß“, fragt sie sich beunruhigt. Vielleicht weiß einer der Kollegen was. Sie geht hinaus auf die Baustelle und sieht nach den Arbeitern, die hier und da auf den Gerüsten oder hinter Baumaschinen hervor lugen. Der Polier steht ganz in der Nähe. „Moin, Sondermann, sagen Sie, haben Sie eine Ahnung, was mit Aschekowski sein könnte? Er hat sich nicht krank gemeldet, zuhause geht niemand ran und sein Handy ist ausgeschaltet.“ – „Hm, schon komisch“, brummelt Sondermann zurück. „Vielleicht iss er bei ́nem Kumpel versackt“, mutmaßt er. „Das ist einmal seit ich ihn kenne  vorgekommen. Da hat er aber ́nen ordentlichen Rüffel vom Alten gekriegt, seit dem kommt er immer pünktlich, egal wie der HSV gespielt hat.“ – „Wie heißt denn der Kumpel, wissen Sie das?“ – „Soviel ich weiß, zieht er immer mit zwei Kumpels durch die Gemeinde, der eine heißt Matze oder so und der andere Georg.“ – „Matze? Ein Spitzname.“ – „Genau, richtig heißt der glaube ich Markus.“ – „Nachnamen wissen Sie wohl nicht?“ – „Von dem Markus nicht. Aber dieser Georg, der heißt Brettschneider mit Nachnamen. Wohnt glaube ich noch bei seinen Eltern in Ottensen.“ – „Danke, Sondermann. Ich will versuchen, Aschekowski aufzutreiben. Übernehmen Sie erstmal die Klempnerleute, wenn die anrücken, ok?“ – „Geht klar, Ma’am!“, frozzelt Sondermann. Mit einem schiefen Grinsen im Gesicht wendet sich Defne wieder dem Container zu.

Schnell hat sie die Nummer von Georg Brettschneider herausgefunden und wählt. Eine müde Frauenstimme meldet sich: „Brettschneider?“ – „Guten Morgen, mein Name ist Aydin, ich bin die Chefin von Herrn Klaus Aschekowski. Man hat mir mitgeteilt, dass ich bei Ihnen Herrn Georg Brettschneider finde, der ein Freund von Herrn Aschekowski sein soll. Kann ich ihn bitte einmal sprechen?“ Die Frau erwidert, diesmal mit deutlich wahrnehmbarem russischen Akzent: „Georrrg, mein Sohn? Nein, tut mirr Leid, der ist garr nicht da. Warrr die ganze Nacht schon wäg. Was wollen Sie denn von ihm?“ – „Ich bin auf der Suche nach Herrn Aschekowski, denn er ist heute nicht auf der Arbeit erschienen. Es stimmt doch, dass Ihr Sohn ein Freund von ihm ist?“, fragt Defne nach. „Jaja, das ist rrrischtisch. Klaus ist beste Kumpel von Georrrg, sie viel miteinanderrr machen.“ – „Haben Sie eine Idee, wo Ihr Sohn und Klaus abgeblieben sein könnten?“ – „Leiderrr nischt, Georrrg manchmal ist längerrr wäg, manchmal Wochen, isch weiß nischt wo. Errr sagt, Geschäfte. Klaus ist nie dabei, so isch weiß. Aber Georrrg mirrr erzählt, Klaus arrrbeiten in neue Stadtteil, wie noch heißen, Hafencity. Aber ist längerrr herr.“ Defne wird hellhörig. „Ach, Sie meinen, Klaus hätte mal in der Hafencity gearbeitet? Können Sie sich noch erinnern, wann das war?“ – „Hm, muss so vorrr zwei oder drei Jahrrän gewesen sein. Errr jetzt nicht mehrr dorrrt?“ – „Nein, jetzt nicht mehr. Frau Brettschneider, könnten Sie mich anrufen, wenn Ihr Sohn wieder auftaucht? Vielleicht hat er ja eine Idee, wo Herr Aschekowski abgeblieben sein könnte.“ – „Mach isch gärrrn, Frau…?“ – „Aydin. Noch eine letzte Frage: Kennen Sie den anderen Freund von Klaus und Georg, Matze? Und wenn ja, wie ist sein richtiger Name?“ – „Sischer, sischer! Matze, das ist Marrrkus Schmitt, nicht wahrrr?“ Georgs Mutter verrät Defne nicht nur die Telefonnummer von Markus Schmitt, sondern auch seine Adresse.

Dienstagnachmittag

Defne düst durch die Innenstadt. Nachdem sie den Arbeitstag mehr schlecht als recht hinter sich gebracht hat (natürlich ist die Klempnerriege mal wieder viel zu spät angerückt, und die Betonpumpe vergießt jetzt erst ihren Inhalt auf das Fundament, was Überstunden für Sondermann bedeutet), versucht sie nun, ihre Gedanken zu sortieren. Klaus Aschekowski hat also vor drei Jahren in der Hafencity gearbeitet. Ein Anruf bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber, der HTG Hoch-Tief-Bau Gadebusch GmbH, und sie wusste, dass Klaus einer der damals fremd angeheuerten Arbeiter ist, die für die Schmuckmauern zuständig waren. Sie war in der Zeit in Urlaub. So ist sie Klaus dort nie begegnet. Die Mauer, hinter der die Leiche gefunden wurde, ist also von ihm gebaut worden! Und nun ist er verschwunden. Wenn das reiner Zufall sein soll, will Defne sich in Hildegard umbenennen lassen! Sie ist sicher, dass Klaus Aschekowski etwas mit der Leiche zu tun hat, sonst hätte er sich nicht aus dem Staub gemacht. Sie muss ihn nur finden, um diesen beiden dämlichen Polizisten ein für alle mal klar zu machen, dass sie keine Mörderin ist.

Sie biegt in die Elbgaustraße ein. Fiese Gegend hier, denkt sie. Markus Schmitt wohnt in Eidelstedt. Ihn will sie nun nach Klaus‘ Verbleib ausfragen, denn telefonisch hat sie ihn nicht erreicht. Wenn er nichts Genaues weiß, würde sie danach nochmal bei Georgs Mutter vorbeifahren, in der Hoffnung, dass ihr Sohn doch noch nach Hause gekommen ist. „Ein Muttersöhnchen im Hotel Mama, ts, ts!“, denkt sie verächtlich.

Sie hält vor Markus Schmitts Haus, steigt aus ihrem Wagen und klingelt. Der Türsummer lässt sie eintreten, eine Tür öffnet sich kurz darauf gleich im ersten Stock. Ein junger Mann lugt aus der Tür hervor. „Ja bitte?“, fragt er höflich. Defne stellt sich vor, woraufhin der junge Mann sie in seine Wohnung bittet.

Markus, genannt Matze, ist ein durch und durch biederer Typ. Wie es sich gehört bietet er ihr einen Kaffee an und baut das entsprechende Equipment inklusive Milchkännchen und Zuckerdose auf dem wachstuchbedeckten Küchentisch vor ihr auf. Von ihm erfährt Defne, dass Klaus und Georg nicht nur gemeinsam zur Schule gegangen sind, sondern auch im selben Fußballverein spielten, wo auch schließlich er, Matze, die beiden kennen gelernt hat. Zu dritt sehen sie sich fast jedes Spiel des HSV an. Klaus sei der mit Abstand leidenschaftlichste HSV-Fan von den dreien. Ihm selbst gehe es eigentlich nur um guten Fußball, während Klaus aus seinem Verein einen richtigen Kult macht. Defne solle ihn mal sehen, wenn der in die Arena geht! Mindestens zehn Schals flattern dann um Klaus‘ Taille, und seine Jeansjacke sei über und über mit HSV-Symbolen bestickt. Ansonsten sei er aber ein echt dufter Kumpel und eine absolut ehrliche Haut. Auch wenn er manchmal mit seinem Holsten Edel einen über die Stränge schlägt.

Georg kommt bei Matze nicht so gut weg. „Von Anfang an war der mir unsympathisch. Der Typ sieht zwar richtig gut aus, aber der gibt an wie ein Sack Flöhe. Häufig hat er unsere Absacker nach den Spielen großkotzig geschmissen. Klaus war das immer recht, der hat ja keine Kohle, aber ich habe mehr als einmal meine Zeche lieber selber bezahlt“, unkt Matze. „Und ein Frauenheld ist der. Nichts, was der anbrennen lässt. Einmal hat der sogar versucht, meine Freundin anzubaggern. Zum Glück steht die nicht auf tätowierte Totenköpfe und Knopf im Ohr! Und was der beruflich macht, weiß kein Mensch. Aber ich sage Ihnen, auf ehrliche Weise kommt der nicht an so`n Haufen Knete. Damit wedelt der manchmal herum wie Rockefeller.“

Auf dem Weg zu Georgs Adresse denkt Defne über das nach, was Matze erzählt hat. Das lässt das Bild, das sie sich von Klaus Aschekowski ausgemalt hat, wanken. Danach ist Klaus der ehrliche von den beiden, und Georg ein schwarzes Schaf. Sie beschließt, vor Georg auf der Hut zu sein.

Dienstagabend

Sie lässt ihren Fiat ein paar Straßen von Georgs Adresse entfernt am Straßenrand stehen. Katastrophal hier mit den Parkplätzen! Zwei Autos hinter ihr parkt ein dunkler Audi. Das Fenster auf der Fahrerseite ist halb geöffnet. Defne bemerkt die Gestalt nicht, die bei genauem Hinsehen im Licht der Straßenlaterne im Wageninnern zu erkennen ist. Als Defne um die nächste Straßenecke biegt, öffnet sich leise die Tür. Die Gestalt steigt aus und schleicht unbemerkt hinterher.

Die Straße, in der Georg wohnt, ist eng, das Haus schmal und schmuddelig. Auf ihr Klingeln an der Haustür im dritten Geschoss öffnet eine hübsche Frau mit tizianroten Haaren im mittleren Alter die Tür. „Frau Brettschneider? Ich bin Frau Aydin. Ist Ihr Sohn zuhause?“ – „Er ist gerrrade zurück, Moment, isch rrrufe ihn. Georrrg? Georrrg, es ist Besuch fürr disch da!“ Ein gut gebauter großer Mann mit dunklen Haaren, grünen Augen und einem mahagonifarbenen Zickenbart, der sein spitzes Kinn (ungünstig, findet Defne) betont, taucht im Flur auf. Bei ihrem Anblick setzt er augenblicklich sein charmantestes Lächeln auf. Mit dem Ohrstecker im Ohr und, wie sie jetzt sehen kann, der Totenkopftätowierung auf dem rechten Oberarm hat er etwas von einem verwegenen Piraten. Der Aufreissertyp schlechthin. „Johnny Depp aus dem Fluch der Karibik. Aber ohne mich“, denkt sich Defne kämpferisch und setzt ebenfalls ihr allerschönstes Lächeln auf. „Was kann ich für Sie tun?“, säuselt Georg. „Vielleicht können Sie mich zunächst einfach hereinbitten?“, erwidert Defne mit der schwülsten Stimme, die sie aufbieten kann.

Georg führt Defne durch die Wohnung in ein kleines Zimmer, das aussieht, als wohne ein
fünfzehnjähriger Junge darin. „Ihr Zimmer?“, fragt Defne, nicht mehr ganz so schwül. „Klein aber mein!“, erwidert Georg mit einer pathetischen Geste. „Aber nun verraten Sie mir doch, was Sie in mein kleines Reich führt?“, fragt Georg leise und beginnt, sich ihr langsam zu nähern. Defne weicht zurück. „Ich mache es kurz. Ich vermisse einen meiner besten Arbeiter. Klaus Aschekowski. Sie sind sein bester Kumpel. Wissen Sie, wo er sich zurzeit aufhält?“ Defnes Ton ist schneidend. Die unerträglich schwülstige Atmosphäre bricht augenblicklich wie ein Kartenhaus zusammen.

Georg wird ernst. Sein Gesicht nimmt einen fast beleidigten Ausdruck an. Er setzt sich auf seine Teenager-Couch, macht sich lang und legt die Beine hoch. „Ich habe Klaus schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. War viel unterwegs. Geschäftlich.“ Das letzte Wort betont er stark. „Er ist nicht zur Arbeit gekommen, sagen Sie? Da machen Sie sich mal keine Gedanken, der säuft öfter mal einen über den Durst. Wahrscheinlich liegt der stockbesoffen bei sich zuhause neben dem Bett. Der berappelt sich schon wieder und steht morgen früh bestimmt auf der Matte. Außerdem ist er ja wohl nicht unersetzlich, was?“ Defne entgegnet scharf: „Momentan ist jeder in meiner Arbeiterkolonne  unersetzlich, ich brauche jeden Mann. Aber besonders brauche ich Klaus Aschekowski. Ich brauche ihn für eine ganz bestimmte anspruchsvolle Arbeit. So anspruchsvoll wie das Mauerwerk an den Magellan-Terrassen. Daran hat er maßgeblich mitgearbeitet, wussten Sie das?“

Mit einem Ruck steht Georg auf, sein Gesicht ist jetzt vor Zorn verzerrt. Drohend baut er sich vor Defne auf, so dass sie unwillkürlich ein paar Schritte rückwärts taumelt: „Ha, Mauern bauen! Als wenn das so schwer sein soll! Gerade diese bekloppte Mauer da in der Hafencity, die Technik ist sowas von einfach! Ich weiß, wie man die einsetzt, habe auch mal eine Maurerlehre gemacht! Völlig unter meinem Niveau, habe ich abgebrochen! Da gehört nun wirklich nix dolles zu, so eine Mauer zu basteln! Ein paar Läufer, ein paar Binder, und fertig! Ich weiß gar nicht, was an Klaus so besonders ist, dass du den unbedingt wieder haben willst, Tussi!“ Georg redet sich in Rage, vergreift sich im Ton, schreit sie fast an, bemerkt es endlich und hüllt sich dann in Schweigen. Schmollend verschränkt er vor ihr die Arme. „‘tschuldigung“, murmelt er schuldbewusst. (Anmerkung der Autorin: Im wahren Leben würde sich so ein Kerl niemals entschuldigen ;-))

Defne ist von diesem emotionalen Ausbruch erstmal baff. Dann fasst sie sich, fragt noch einmal: „Sie können mir also nicht sagen, wo sich Herr Aschekowski befindet?“ – „Nein.“ – „Haben Sie vielen Dank. Einen schönen Abend noch!“ Defne macht auf dem Absatz kehrt und verlässt so schnell sie kann die Wohnung.

Dienstagnacht

Auf der Straße angekommen, holt sie tief Luft. Was für ein unangenehmer Zeitgenosse! Matze hat Recht gehabt. Neben der Arroganz und Überheblichkeit, die Georg eben an den Tag gelegt hat, zeig er aber noch etwas ganz anderes: Maßlose Eifersucht auf seinen Kumpel. Was hat er gesagt? Er weiß, wie man die Technik einsetzt… und da gehört nix dolles zu? Defne überlegt kurz, dann gehen ihr gleich mehrere Lichter auf. Hat Georg selbst sich an der Mauer zu schaffen gemacht? Und was ist nun mit Klaus? Womöglich hat Georg was mit seinem Verschwinden zu tun! Hat Klaus vielleicht etwas herausbekommen?

Mitten in ihren Gedanken hört sie hinter sich eine Tür klappen. Schnell huscht sie in den Schatten einer Einfahrt und späht hinüber auf die andere Straßenseite. Sie erkennt Georgs Gestalt, die sich eilig auf dem Gehweg davon macht. Katzengleich schleicht sie hinterher. An der nächsten Kreuzung steigt Georg in einen großen glänzenden BMW, eine Art Geländewagen. Während der Motor schnurrend anspringt, flitzt sie geduckt durch die Schatten der Straßen zu ihrem Punto, ohne dabei den Geländewagen aus den Augen zu lassen. Schnell schmeißt sie sich hinter das Lenkrad, lässt den Motor an und folgt dem großen Van unauffällig in Richtung Autobahn.

Hinter ihr setzt sich der Audi mit ausgeschalteten Scheinwerfern in Bewegung.

Die Fahrt geht mehr als drei Stunden auf der Autobahn Richtung Osten. Defne hat Mühe, mit den PS des BMW mitzuhalten und tritt das Gaspedal ihres kleinen Fiat Punto fast die ganze Fahrt bis zum Anschlag durch. Endlich nimmt der BMW eine Ausfahrt und es geht langsamer auf Landstraßen weiter. Die Ostsee ist nicht mehr weit, vermutet Defne. Sie folgt dem BMW in gebührendem Abstand in der Hoffnung, bisher nicht entdeckt worden zu sein. Kurze Zeit später kommen sie in eine Ortseinfahrt. Ein paar Straßen weiter kann Defne einen kleinen Hafen erkennen, in dem Fischerboote und ein paar Segelyachten liegen. Weiter vorne sieht sie, wie der BMW vor einem alten Haus direkt am Hafenbecken hält. Defne parkt ihren Punto unweit davon in einer Seitengasse und steigt aus. Sie lugt um die Häuserecke und beobachtet, wie Georg aussteigt und in dem Haus verschwindet.

Mit schnellen Schritten im Schatten der Häuserzeile erreicht sie das verfallene Haus, in dem Georg verschwand. Sie nimmt es in Augenschein und bemerkt links neben der Hauswand eine Kellertreppe. Allerlei Gerümpel, alte Fischernetze und Schrotteile liegen neben und auf der Kellertreppe herum. Flink hastet sie um das Gerümpel herum die Stufen hinunter und probiert, ob die Tür zufälligerweise offen ist. Fehlanzeige! Doch die Tür und das dazu gehörige Schloss sind alt und von der Seeluft verwittert. Sie blickt sich im umliegenden Plunder um. Da liegt eine rostige Nockenwelle am Rand der Treppe, die sie sich nun schnappt und am Schloss ansetzt. Wäre doch gelacht! Nach einigen Hebelversuchen an der Klinke springt die Tür mit einem Knacken auf. Mist, hoffentlich hat sie nicht zu viel Lärm gemacht!

Sie hält inne und lauscht. Stille. In der Ferne hört sie eine Kirchturmuhr schlagen: …neun, zehn, elf…oder zwölf? Sie hat komplett ihr Zeitgefühl verloren. Wieder Stille. Nach einer ganzen Weile dringen leise Stimmen an ihr Ohr, ab und zu unterbrochen von dumpfen hohl klingenden Schlägen. Zwei Männer, die sich streiten…aber was ist das dumpfe Dröhnen? Sie merkt, wie sich langsam Angst in ihr breit macht. „Reiß dich zusammen!“ ermahnt sie sich selbst. Sie lauscht weiter und betritt vorsichtig mit mulmigem Gefühl das Kellergeschoss.

Finsternis umgibt sie. Langsam tastet sie sich mit den Händen an der Wand vorwärts, vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzend. Plötzlich streift etwas ihr Bein. Zu Tode erschrocken weicht sie zurück, und das Etwas verschwindet fauchend hinter der offenen Kellertür.

Sie spürt ihr Herz bis zum Hals klopfen. Nur mit Mühe bekommt sie sich wieder in die Gewalt und kann gerade noch ein lautes Aufkreischen verhindern. Eine Weile bleibt sie keuchend in der Dunkelheit stehen. Dann tastet sie sich vorsichtig weiter. Allmählich werden die Stimmen lauter. Defne erreicht eine Tür, unter deren Spalt ein schwacher Lichtschein hervorschimmert. Sie legt das Ohr daran und lauscht. Die lautere Stimme ist die von Georg. Sie horcht noch einmal ganz genau hin, um auch die andere Stimme erkennen zu können. Ja, das ist Klaus!

Um zu verstehen, was geredet wird, presst sie ihr Ohr platt an die kalte Stahltür. Die Stimmen werden laut und überdeutlich, plärren in ihrem Ohr, verstärkt durch das Metall. Georg sagt gerade: „…wer soll denn das glauben? Die beiden Bullen sind doch dümmer als die Polizei erlaubt, die kriegen nie raus, wer das Loch wieder zugemauert hat. Es sei denn, du steckst denen das!“– „Mensch, Alter, ich hab‘ das Foto von der Mauer gesehen, das sieht doch `n Blinder mit Krückstock, dass du das warst!“ Klaus Stimme klingt ziemlich wütend. „Du hast sie kaputt gemacht und in deiner luschigen Art wieder zusammengefriemelt, das kenn ich doch von dir, du alter Nussknacker! Und dann hast du da die Leiche hinter versteckt! Das soll ich einfach so übersehn‘ oder was? Nun mach‘ mich endlich los, du alte Schabracke!“ Klaus‘ Stimme wird begleitet von dem dumpfen Dröhnen. Georg wird jetzt auch laut: „Ich hab‘ dir doch die ganze Zeit gesagt, dass ich zum Verstecken der Leiche gezwungen wurde, und umgebracht hab‘ ich den Kerl nicht. Das musst du mir glauben! Ich bin kein Mörder! Und wenn du den Bullen das steckst, bin ich geliefert!“ schreit er. „Was machst du auch so`n Scheiß!“ schreit Klaus zurück.

Eine Weile herrscht Schweigen. Dann sagt Georg, in versöhnlichem Ton: „Klaus, ich kann dich an `nem Geschäft beteiligen. In der Genussmittelbranche boomt das jetzt, guck dir mein Auto an. Kannst auch mitverdienen. Steig mit ein, und du kannst dir ́ne bessere Butze leisten, und deine Claudia kriegst du mit der Knete auch rum!“ – „Vergiss es, Alter, ich pfeif auf dein‘ falschen Zaster! Krumme Dinger mach ich nich mit!“ Klaus‘ Stimme überschlägt sich fast vor Wut. Defne hört die dumpfen hohlen Trommelschläge erneut. „Krumme Dinger? Das siehst du völlig falsch, Klaus, es handelt sich um lukrative Einnahmen.“ Georgs Stimme wird nun eiskalt. „Aber ich sehe schon, du kannst den Wert meines Angebotes wohl nicht erkennen.“

Einen Moment lang ist es still. Unvermutet hört Defne Schritte, die sich ihrer Tür nähern. Ihr bleibt die Luft weg. Gerade als sie sich anschickt zu flüchten, stoppen die Schritte und sie hört, wie jemand in einer Kiste oder ähnlichem kramt. Dann entfernen sich die Schritte wieder. „Was soll das denn, bist du bescheuert, steck sofort das Ding weg!“ brüllt Klaus. Die dumpfen Schläge hämmern stärker als zuvor.

Defne schnürt es langsam die Kehle zu. Sie drückt leise auf die Türklinke. Gottseidank, offen! Mit größter Anspannung gelingt es ihr, die Stahltür geräuschlos zu öffnen. Weil sich die Tür nach innen öffnet, ist es Defne möglich, unbemerkt aus dem Dunkel in den schwach erleuchteten Kellerflur zu spähen. Auf dem Boden und an den Wänden liegt allerlei Zeugs herum, hauptsächlich Bootsbedarf. Links steht eine alte Seetruhe, vermutlich die Quelle der Kramgeräusche. Ganz am Ende hinter einem Haufen signalorangefarbener Kugelfender sieht sie Georg stehen. Ihm gegenüber sitzt Klaus auf einem alten Ölfass. Seine Hände sind auf seinem Rücken gefesselt, festgezurrt an ein Abwasserrohr in der Kellerecke. Er brüllt wie ein Wahnsinniger. Immer wieder hämmert er wie wild mit den Hacken gegen das Fass. Georg hält in der rechten Hand eine Pressluftharpune, richtet sie auf Klaus und will gerade zum Schuss ansetzen.

Blitzschnell schießt Defne aus ihrem Versteck hervor, nimmt einen der Kugelfender ins Visier, holt mit dem linken Bein aus und ballert den Fender mit voller Wucht in Georgs Gesicht. Beinhart getroffen stürzt dieser hintenüber und knallt der Länge nach hin. Die Harpune fliegt in hohem Bogen durch den Flur und landet direkt vor Defnes Füßen. „Tor!“ schreit Klaus mit verzweifelter Begeisterung und trampelt noch stärker als zuvor gegen das leere Fass. Er begreift noch gar nicht, welchem Schicksal er da gerade um Haaresbreite entgangen ist.

Defne schnappt sich die Harpune und richtet sie im Nu auf Georg. „Schluss mit Lustig, du verkappter Pirat! Los, mach die Fesseln ab!“ schnauzt sie Georg mit einer Kopfbewegung Richtung Klaus an. Mit verdattertem Gesicht erhebt sich Georg langsam mit erhobenen Händen, dreht sich zu Klaus um… prompt bückt er sich, packt den Fender und schleudert ihn auf Defne. Diesmal stürzt sie zu Boden.

Unverzüglich steht Georg über ihr und hält ihr die Harpune ins Gesicht. „So, Prinzessin, Feierabend, für dich und deinen Mauerhelden!“

In diesem Moment fliegt krachend die Stahltür hinter ihnen auf. Winterling und Gruhl, die beiden „dämlichen“ Kommissare, stürmen den Keller und richten die Waffen auf Georg. „Harpune  ́runter!“, befiehlt Winterling. Georg wird leichenblass, hört aber nicht auf, Defne mit der Harpune zu bedrohen. „Waffen weg, ich durchbohr sie sonst!“, schreit er.

Ein Schuss kracht. Georg wird noch blasser, bekommt einen erstaunten  Gesichtsausdruck, zieht noch im Fallen am Abzug und sackt seitlich zusammen. „Nein!“, brüllt Klaus. Der Harpunenpfeil schießt aus dem Lauf. „Auuuuh!“, jault Defne laut auf. Der Pfeil bohrt sich in ihren rechten Oberarm.

Mittwochmorgen

Draußen geht langsam die Sonne über der Ostsee auf. Auch dieser Tag wird ein wunderschöner Frühlingstag werden. Die morgendliche Stille, normalerweise in dem kleinen Fischerort um diese Zeit nur von Möwengeschrei und Amselgesang durchdrungen, muss heute dem hektischen Treiben von Polizei- und Notarztwagen weichen. Blaulicht flackert über das Hafenbecken, reflektiert von der schwarzglänzenden Wasseroberfläche zwischen den dümpelnden Booten. Durch Polizeifunk verzerrte Stimmen hallen von den Kaimauern und Hauswänden wider.

Defne liegt in einem der Krankenwagen. Der Notarzt hat ihr den Pfeil ruck zuck entfernt. Lange hat sie nicht auf ärztliche Hilfe warten müssen. Schon zehn Minuten nach den turbulenten Ereignissen kamen zwei Sanitäter in den Keller hinunter und versorgten sie. Sie brachten sie auf einer Trage aus dem Keller und behandelten sie in einem der Krankenwagen weiter. Nun hat sich der Schmerz abgeschwächt, stattdessen beginnen ihre Nerven zu flattern. Sie lässt ihren Tränen freien Lauf.

Klaus steht draußen vor dem offenen Notarztwagen und sieht bedröppelt zu seiner Chefin hinein. Defne sieht ihn, winkt ihm aufmunternd zu. „Geht schon wieder“, flüstert sie. Klaus druckst herum. „Boss, Sie…ich meine, Frau Aydin…“, stottert Klaus. „Ja?“ – „…das…das war ein bundesligareifer Schuss. Der hätte Chancen auf ein Tor des Monats gehabt, echt jetzt. Dagegen war mein Treffer damals gegen den SV Meppen…nix. Auch wenn…“, Klaus druckst noch mehr ́rum: „…auch wenn…“, er nimmt allen Mut zusammen: „…das war niemals Abseits, der war gültig, im Ernst!“ Klaus wird knallrot und schluckt. „So, das wollte ich Ihnen schon immer mal sagen, nu isses `raus…“. Defne starrt ihn von ihrer Liege aus verblüfft an. Eine Sekunde lang weiß sie nicht, wovon er redet, dann fällt endlich der Groschen. „Der kleine Stürmer von Altona 93…wieso bin ich nicht schon eher darauf gekommen?“ Sie schlägt sich mit der linken Hand gegen die Stirn und fängt an zu glucksen. Aus dem Glucksen wird lautes Lachen, sie kann gar nicht mehr aufhören. Klaus staunt nur noch. Dann fällt auch er in Defnes Gelächter ein. Ein dicker Knoten löst sich in ihm.

Erleichtert schüttelt er eine Zigarette aus seiner Jeansjackentasche, schiebt sie zwischen die Lippen und zündet sie an. Er inhaliert den Rauch tief. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages wärmen sein müdes Gesicht.

Nicht wählen – eine Wahlentscheidung wie jede andere auch

Aus gegebenem Anlass möchte ich hier einmal eine Lanze für die allseits verschmähten, verhöhnten, diffamierten und in irgendwelche „heimlich-dies-oder-das-gewählt“- oder „andere-für-sich-wählen-lassen“-Schubladen gesteckten Nichtwähler brechen.

Rein rechtlich gesehen, und das finde ich sehr wichtig (und bedauerlich, dass viele Menschen es vergessen), gibt es in diesem Land ein Wahlrecht. Aber keine Wahlpflicht. Somit auch keinen Wahlzwang.

Wer Rechte hat, ist nicht verpflichtet, diese in Anspruch zu nehmen. Ein Beispiel dazu: Als ich Angestellte in einer Anstalt öffentlichen Rechts der Stadt Hamburg war, hatte ich mir durch jahrelange Zugehörigkeit ein Recht erworben, im Falle des Verkaufs dieser Anstalt an private Träger zur Stadt als Arbeitgeberin „zurückzukehren“. Ich hatte ein Rückkehrrecht. Der Fall trat ein, die AöR wurde privatisiert, und ich hätte mein „gutes“ Recht einlösen können. Verschiedene Gründe ließen mich aber damals anders entscheiden.

Ob die Entscheidung im Nachhinein gut war, steht auf einem anderen Blatt. Es ist allerdings müßig, darüber zu spekulieren, denn die Entwicklung lief nun einmal für mich so wie sie lief, ich bereue rein gar nichts. Frühere Rückkehrer konnten allerdings nicht an sich halten, mir zu bescheinigen, „wie blöd“ ich doch gewesen sei, dieses Recht nicht in Anspruch zu nehmen. Nun sähe ich ja, was ich davon hätte. Dass meine Lebensentscheidungen jedoch ganz allein meine Sache sind, die niemand beurteilen kann und deshalb auch niemand weder zu kommentieren noch abzuwerten hat, ist auch so eine Tatsache, die viele Menschen schlicht nicht begriffen haben.

Genau so sieht es auch mit dem Nichtwählen aus. Jede Wahlentscheidung hat ihre Berechtigung, ja selbst die, AfD zu wählen (aber ich bin sehr froh, dass es die 5%-Hürde gibt und grusele mich persönlich sehr, dass die es beinahe geschafft hätten). Wie können aber Menschen jetzt auf einmal die Stimmen, die CDU gewählt haben, höher bewerten als die Stimmen, die stumm blieben? Die der Menschen, die nicht wählen gegangen sind? Nicht von ihrem Recht, irgendwo auf einem Stimmzettel ein Kreuz zu setzen oder diesen leer in die Urne zu werfen, Gebrauch gemacht haben? Wer kann jemanden verurteilen, der für sich die Wahlentscheidung trifft, nicht wählen zu gehen?

Doch die Bewertung der abgegebenen Stimmen wird ja ohnehin sehr unterschiedlich gesetzt. Es ist ja praktisch von vornherein klar gewesen, dass Frau Merkel mit ihrer knapp verfehlten absoluten Mehrheit die Gewinnerin ist. Mit welchem Recht eigentlich? Sie bekam insgesamt nur knapp 30% Stimmen von 100% Wahlberechtigten, und hier sind die Nichtwähler mit eingerechnet. Weil ihre Meinung, ihre Nicht-Stimmen genau so viel bedeuten wie die Stimmen für die SPD, die Linke, die Grünen. Weil hinter den abgegebenen und nicht abgegebenen Stimmen Menschen stehen, die denken können, die Entscheidungen treffen können.

Wird davon nicht ausgegangen (auch wenn es vielleicht nicht in jedem Fall gegeben ist, aber das muss vernachlässigbar sein), sondern werden die Entscheidungen der Menschen unterschiedlich je nach Gutdünken und wie es gerade am besten in den Kram der Lobbyisten passt, bewertet, sind wir der Diktatur einen großen Schritt näher gekommen.

Wenn sie nicht längst schon da ist.