Oder: Warum Wahrheit und Wahrnehmung permanent miteinander verwechselt werden
In dieser Gesellschaft, insbesondere in deren Mainstream, werden grundlegende Dinge, die miteinander gar nichts zu tun haben, ständig in einen Topf geworfen und verwechselt. Ein Beispiel dafür ist Wahrheit und Wahrnehmung bzw. Perspektive. Dies möchte ich am Beispiel einer optischen Täuschung erläutern:
Sind es drei oder vier Balken? Das hängt von der Perspektive ab. Beide Perspektiven stimmen für sich genommen, keine ist richtig oder falsch. Aber was ist nun die Wahrheit? Die Wahrheit ist, dass es gar keine Balken gibt, sondern nur ein paar schwarze Linien auf weißem Papier. Beide Perspektiven sind daher falsch in Bezug auf die Wahrheit. Aber unser Gehirn kann gar nicht anders, als diese Linien zu interpretieren und daraus Balken zu machen. Das ist die Wahrnehmung, und sie ist weder richtig noch falsch. Aber Wahrnehmung ist nicht gleich Wahrheit. Der Unterschied ist fundamental: Während die Wahrnehmung immer von einer Perspektive und anderen vielen Faktoren abhängt, ist Wahrheit wie sie ist, unabhängig davon, ob sie erkannt wird oder nicht, ob sie geglaubt wird oder nicht, ob sie verstanden wird oder nicht. Es ist sehr wichtig, da genau zu unterscheiden, denn andernfalls entsteht Unklarheit und Begriffsverwirrung. So entstehen Aussagen wie: „Deine Wahrheit, meine Wahrheit“ oder „Es gibt kein richtig und falsch“. Dabei gibt es nur deine Perspektive, meine Perspektive (anders ausgedrückt: Deine Wahrnehmung, meine Wahrnehmung). Die Aussage „Es gibt kein richtig und falsch“ kann sich daher nur auf die Perspektive und den Standpunkt, von dem aus wir wahrnehmen, beziehen.
Wir können aufgrund unserer Sinne und unseres interpretierenden Gehirns immer nur einen (sehr kleinen) Teilaspekt der Wahrheit wahrnehmen, manchmal sogar ihr Gegenteil. Wir können nicht wahrnehmen, dass der Mond oder die Erde eine Kugel sind, aber wir wissen es inzwischen, da wir es nach geprüft und heraus gefunden haben. Das ist die Wahrheit. Die Wahrnehmung aber zeigt uns am Himmel eine weiße leuchtende Scheibe und einen geraden Horizont, bei dem die Sonne morgens im Osten aufsteigt und abends im Westen dahinter versinkt. Aufgrund unserer Wahrnehmung schlossen wir und glaubten sehr lange, dass die Sonne um die Erde kreist. Aber die Wahrheit ist, dass es genau umgekehrt ist.
Wahrheit kann sehr banal sein, sehr einfach, sehr langweilig, aber auch hart, schrecklich, schlimm bis unerträglich. Das Benennen der Wahrheit ist für viele Menschen unangenehm bis unerträglich, wenn das eingeübte Weltbild dadurch infrage gestellt wird, daher kommt es zu manchmal heftigen Abwehrreaktionen. Wer der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen will oder kann (aus diversen Gründen), muss sie zwangsläufig leugnen oder abstreiten. Doch Naturgesetze gelten, ganz egal, was Ideologen sogar gegenteilig behaupten. Das ist leider das Problem der Menschheit: Sie sieht, was sie sehen will, sie hört, was sie hören will, sie glaubt, was sie glauben will. So kommt es, dass es immer noch Menschen gibt, die glauben, dass die Erde eine Scheibe ist, oder dass Geschlecht ein Spektrum sei oder dass ein bis über die Nachweisgrenze hinaus verdünnter Stoff (Homöopathen nennen das „Potenzierung“) eine Wirkung haben soll.
Dabei bräuchte die Menschheit dringend einen klaren und nüchternen Blick auf die Fakten, was natürlich die Akzeptanz dieser voraussetzt, um zu Antworten und Lösungen der massiven selbst verursachten Probleme zu kommen. Doch etliche Ideologien trüben den Blick darauf und sorgen dafür, dass die skurrilsten Überzeugungen Eingang in den Mainstream gefunden haben und noch immer finden, und es wird eher schlimmer als besser. Dabei ist Klarheit das, was Lösungen bringt, doch keine Ideologie, keine Religion, kein wie immer gearteter Glaube. Glaube, nicht Wissen, verschleiert den Blick auf die Fakten und hindert uns daran, zu Klarheit zu gelangen.
Ferner kann Wahrnehmung trainiert werden, u. a. dadurch, dass verschiedene Perspektiven eingenommen werden, eine Sache also von unterschiedlichen Standpunkten aus beleuchtet wird. Das erweitert den Horizont und bringt uns der Wahrheit näher.
Es ist bereits problematisch genug, wenn Wahrnehmung und Wahrheit in Bezug auf die Fakten verwechselt werden. Doch besonders kritisch wird es, wenn sich Wahrnehmung auf eine andere Person bezieht. Diese kann feststellen, dass sie falsch wahrgenommen wurde. Ist dies gegeben, hat sie alles Recht der Welt, die falsche, irrtümliche Wahrnehmung zu korrigieren und eine Klarstellung zu versuchen. In diesem Kontext gibt es sehr wohl richtig und falsch, denn es handelt sich hier nicht um zwei verschiedene Perspektiven auf gleicher Ebene, sondern um die Bewertung bzw. Beurteilung einer Person durch eine andere. Die beurteilte Person kann sich dagegen wehren. Doch nun passiert es leider öfter, dass von der beurteilenden („wahrnehmenden“) Person folgendes Totschlagargument hervor geholt wird: „Du sprichst mir die Wahrnehmung ab!“ Das ist nicht nur unfair, man tut der falsch wahrgenommenen Person damit unrecht. Umgekehrt wird ihr selbst aber ebenfalls gern die Wahrnehmung abgesprochen, und zwar mit den Worten „Das ist ja nur deine Wahrnehmung!“. Einerseits soll sie die Wahrnehmung anderer (über sich!) unkommentiert stehen lassen (dabei kann nur sie selbst wissen, wer sie ist und was ihn ihr vorgeht), aber ihre eigene Wahrnehmung bekommt einen nachgeordneten Stellenwert.
Diesen toxischen Mechanismus habe ich viele Male gerade in psychologischen Kreisen erlebt. Ich finde nicht, dass ich, gerade wenn es um meine Person geht und jemand anfängt, an mir herum zu interpretieren, Dinge einfach so stehen lassen muss, wenn die „Wahrnehmung“ auf Unwahrheit und Projektion beruht. Hat aber eine Richtigstellung keine Wirkung, nützt meine Klarstellung nichts, dann bleibt mir gar nichts anderes als es so stehen zu lassen. Die Konsequenz ist, dass ich mich von Menschen zurück ziehe, die unreflektiert auf ihrem Standpunkt beharren, mich partout so sehen wie sie mich sehen wollen und nicht offen sind für meine Worte.
👍💪