Ein Kurzkrimi
Sonnabend
Susanne schlendert mit ihrer Tochter Annika den Sandtorkai entlang. Die Hafenrundfahrt haben beide an diesem sonnigen Frühlingstag sehr genossen. Nach einem Besuch in der Miniaturbahn zieht es sie erneut in Richtung Wasser. Sie passieren eine der schmalen Durchgänge durch die Neubauten direkt am Grasbrookhafen. Der Blick öffnet sich auf ein Hafenbecken, in dessen Mitte eine stählerne Skulptur auf dem Wasser schwimmt, ein Kunstobjekt. Annika fragt verwundert: „Was ist denn das für eine komische Boje, Mama?“- „Das ist keine Boje, sondern soll wohl Kunst sein“, entgegnet Susanne.
„Aber dann kann doch gar kein Schiff in den Hafen reinfahren“ wendet Annika ein, belässt es dann aber dabei und hüpft am Geländer entlang Richtung Magellan-Terrassen. Sie hat eine Eisbude entdeckt, die sie magisch anzieht. „Mama, kann ich ein Eis?“ „Ausnahmsweise“. Susanne kramt ihr Portemonnaie hervor. „Zwei Waffeleis mit jeweils zwei Kugeln, Erdbeere und Schokolade“ sagt sie zu dem Eisverkäufer. Ihr Eis schleckend, trödeln sie weiter über die Magellan-Terrassen in Richtung Kreuzfahrtterminal. Annika findet die Mauer mit den Ziegelsteinornamenten, die bei Betrachtung aus der Ferne ein riesiges Fischornament erkennen lässt, so interessant, dass sie hinläuft und die reliefartig hervorstehenden bunten Ziegelsteine mit ihren Erdbeereisbeschmierten Fingern einzeln abtastet.
Doch plötzlich stutzt sie: „Mama, wachsen auf Steinen eigentlich auch Haare?“ – „Haare? Wie kommst du denn darauf? Lass mal sehen, Anni“, antwortet Susanne und geht nun ebenfalls näher an die hübsche Kaimauer heran. Susanne starrt auf die Stelle, auf die Annika zeigt, und tatsächlich, da sind Haare an einem der Ziegelsteine zu erkennen. Allerdings wachsen sie nicht auf dem Stein, sondern lugen zwischen zweien hervor. Als wären sie dazwischen geklemmt. Vielleicht hat sie ein Hund verloren? Susanne versucht sie aus der Ritze zu ziehen, sie klemmen aber fest. Stattdessen bewegt sich einer der hervorstehenden Ziegelsteine. Das kommt Susanne nun aber wirklich komisch vor. Sie packt den Stein mit beiden Händen und zerrt mit aller Kraft daran. Mit einem plötzlichen Ruck löst sich der Ziegel, gleitet Susanne aus der Hand und landet krachend auf dem Boden. Susanne erschrickt, als sie auf die entstandene Öffnung sieht. Außer den Haaren ist nun zu erkennen, worauf sie in Wirklichkeit wachsen: Auf einem halb verwesten Schädel, dessen rechtes Auge den beiden nun aus dem dunklen Spalt entgegen linst. Schnell zieht Susanne ihre laut aufkreischende Tochter an sich. Dann fummelt sie hektisch nach ihrem Handy und wählt zitternd die bekannte Nummer.
Montagnachmittag
Klaus Aschekowski hat heute wieder den Montag nach einer Wochenendschicht hinter sich. Seit die neue Bauingenieurin seiner Kolonne vorsteht, hat er keine ruhige Minute mehr und muss schlimmer ranklotzen als je zuvor. Das allein wäre ja nur halb so schlimm, wenn seine neue Vorgesetzte nicht ausgerechnet jene Schiedsrichterin wäre, die vor Jahren bei dem Spiel Altona 93 gegen den SV Meppen, bei dem Klaus zwei Tore schoss, einen seiner Treffer nicht gewertet hat. Angeblich wegen Abseits. Dabei weiß er doch ganz genau, wie es damals war: Klaus hat gerade eben den Ball mit dem linken Bein im Meppen-Tor platziert, als sein Gegner, Gerrit vom SV Meppen, ihm mit dem rechten Fuß ein Bein stellte. Für Klaus war Gerrit nicht nur eindeutig näher am Tor gewesen, er hat ihn also auch noch im Strafraum gefoult. Und was macht diese blöde Schiri, anstatt Klaus‘ Treffer zu werten? Sie pfeift Abseits! Als er nur daran denkt, kommt ihm wieder die Galle hoch! Er beschleunigt wütend seine Schritte. Ausgerechnet die, ausgerechnet die! Er braucht jetzt dringend sein kühles Holsten, um sich zu beruhigen.
Die Wohnungstür des heruntergekommenen Mehrfamilienhauses direkt neben den Bahngleisen Nähe Bahnhof Elbgaustraße ist nur noch wenige Schritte entfernt. Klaus achtet nicht auf den herrlichen Frühlingstag, auf das erste Grün an den Büschen. Er nimmt den flirrenden Gesang des Rotkehlchens aus einer nahe gelegenen Hecke nicht wahr. Mürrisch wischt er sich eine verschwitzte Strähne seines straßenköterblonden Haarschopfes aus der Stirn und fummelt den Schlüsselbund hervor, der an einem Karabinerhaken an seinem Hosenbund befestigt ist. Erstmal die MOPO lesen, da freut er sich schon drauf. Else, seine Nachbarin mit dem Kater, bewahrt sie nach dem Auslesen immer auf und steckt sie dann in Klaus‘ Briefkasten. Auf der Arbeit im Pausencontainer bekommt er die Zeitung wegen seines horrenden Arbeitspensums kaum noch zu Gesicht, und wenn, dann nur flüchtig die erste und letzte Seite, während gerade einer seiner Kollegen darin schmökert. Er kommt immer zu spät, kann nicht rechtzeitig Pause machen. Deswegen holt er das in letzter Zeit zuhause nach. In Ruhe und mit Holsten Edel.
Der Briefkastenschlüssel versinkt im Schloss, Klaus dreht ihn herum und zieht mit einem Schwung die kleine quietschende Tür auf. Da ist die MOPO endlich. Er schnappt sie begierig, dabei fällt sein Blick auf die erste Seite. Jäh gerät er ins Stocken; ein Schauer läuft ihm über den Rücken. Langsam nimmt er die Zeitung in die Hände und betrachtet fassungslos die erste Seite. „Mysteriöser Leichenfund in Hafencity-Mauerwerk“ schreit die Schlagzeile, aber Klaus‘ Aufmerksamkeit gilt mehr dem Foto darunter. Es zeigt ein großes Loch in einer hohen Mauer mit reliefartigen bunten Ziegelsteinornamenten.
Seiner Mauer.
Langsam schließt er die Briefkastentür wieder und steigt, ohne den Blick von der MOPO zu wenden, den Treppenabsatz zu seiner Wohnung, die erste im Hausflur, hinauf. Während er die ersten Zeilen des Artikels liest, fuchtelt er blind den Wohnungsschlüssel ins Türschloss, öffnet automatisch die Tür und tritt in den nach abgestandenem Rauch muffelnden Hausflur, dessen Wände mit HSV-Postern vollgehängt sind. Heftig gibt er der Tür mit seinem sicherheitsbeschuhten Fuß einen Tritt, worauf sie krachend hinter ihm ins Schloss fällt.
„Die kleine Annika E. (8) aus Marmstorf wollte sich die Mauer genauer ansehen, als sie ein Haarbüschel bemerkte. Ihre Mutter Susanne E. (42) zog einen losen Ziegelstein aus der Mauer und machte die grausige Entdeckung“, las Klaus. „Der Tote steckte hinter der Mauer in einem Hohlraum und war schon halb verwest. Laut Polizeiangaben muss die männliche Leiche mindestens ein halbes Jahr dort gelegen haben. Weitere Einzelheiten zur Identität des Toten teilte die Polizei nicht mit“.
Klaus lässt die Zeitung sinken und verweilt für einen Augenblick schwer atmend in seinem Hausflur. Seine Gedanken rotieren.
Dann bewegt er sich mit zwei Schritten in seine winzige Küche. Er öffnet die Kühlschranktür. Sie gibt den Blick auf ca. 23 braune Flaschen frei, die dort gehortet sind. Eine davon schnappt er sich und schlägt den Kronenkorken mit der flachen Hand an der schartigen Tischkante ab. Hektisch setzt er die Flasche an seine ausgetrockneten Lippen und lässt den Inhalt in einem Zug durch seine Kehle rinnen. Er greift sich eine zweite Buddel und huscht mit vier Schritten in sein spärlich möbliertes Wohnzimmer. Ein altes schwarzes Ledersofa und eine riesige Glotze beherrschen es. Die MOPO wirft er erstmal auf den billigen Couchtisch. Mit zwei Griffen schiebt er den Vorhang zurück und öffnet mit einem Ruck das Fenster, an dem in diesem Moment die 16:42-Uhr-S-Bahn vorbeirauscht. Dann lässt er sich in den neben dem Sofa platzierten abgewetzten Sessel plumpsen, der wie ein Erbstück seines Urgroßvaters aussieht.
Das kann nicht sein, das kann einfach nicht sein. Er fasst sich an seinen Drei-Tage-Bart und nimmt nochmals die MOPO in die Hand.
Klaus ist Maurer. Er ist ein guter Maurer, und das gerne. Deswegen bekommt er öfters Aufträge, die etwas anspruchsvoller sind, manchmal von anderen Firmen, die ihn sich ausleihen wie einen hoch gehandelten Fußballprofi. Diese Parallele gefällt Klaus als leidenschaftlicher HSV-Fan. Ein solcher Auftrag hat Klaus den Bau der Schmuckmauer an den Magellan- und Marco-Polo-Terrassen in der neu entstehenden Hafencity beschert. Sein Auftraggeber war damals nicht seine eigene Firma, sondern die Firma HTG Hoch-Tief-Bau Gadebusch GmbH, die viele Bauprojekte in der Hafencity realisiert. Da kann sie jeden fähigen Facharbeiter gebrauchen, den sie kriegen kann. So auch Klaus, denn er hat ein Händchen für schönen Mauerschmuck. Die Kaimauern der Hafencity-Terrassen wurden vor drei Jahren fertig gestellt, und Klaus ist stolz auf sein Werk. Außerdem hat es ihm einiges an zusätzlicher Knete beschert.
Er weiß also, wie diese Mauer gebaut wurde. Eine Leiche ist ihm allerdings dabei nicht
untergekommen.Das zweite Holsten Edel zischt seine Kehle hinunter, dazu steckt er sich eine Zigarette an. Er zählt eins und eins zusammen und sagt sich, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis die Polizei hier auftaucht. Prompt klingelt es an der Haustür. „Das sind die bestimmt schon, Mist, können die nicht bis morgen warten“, schimpft er bei sich, drückt unwirsch die Zigarette aus, steht auf und öffnet den beiden Polizisten die Tür. Einer von ihnen hält Klaus seine „Hundemarke“ vor die Nase und sagt: „Kriminalkommissar Winterling, das ist mein Kollege Gruhl, dürfen wir ‚reinkommen?“ Klaus tritt einen
Schritt zur Seite und weist mit der Hand in Richtung Wohnzimmer. Die beiden Kommissare betreten das Wohnzimmer und setzen sich einträchtig auf das schwarze Ledersofa, während sich Klaus abermals in den abgewetzten Sessel fallen lässt.
Mit Unbehagen betrachtet er die beiden. Sie sind ihm sofort unsympathisch. Der, der sich Winterling nennt, ist mittelgroßer Statur, untersetzt, mittleren Alters und trägt eine mausgrau-schüttere Haartracht. Der andere ist hohlwangig und schlaksig. „Sie können sich denken, warum wir hier sind?“ hebt Winterling mit dünner Stimme an, während er fahrig ein kleines Notizbuch zückt. „Klar, habe gerade eben von der Katastrophe gelesen“, gibt Klaus zurück und weist auf die MOPO auf dem Tisch. „Es wird sich noch herausstellen, ob das stimmt“, näselt Gruhl arrogant. Klaus rutscht bei diesen Worten unruhig auf der Sitzfläche herum und funkelt Gruhl böse an. „Was soll das denn heißen?“ blafft er. „Was mein Kollege damit andeuten will, ist, dass wir in einem Mordfall ermitteln und Sie für uns einer der Hauptverdächtigen sind“, erläutert Winterling. „So’n Quatsch!“ erwidert Klaus wütend. Winterling fährt unbeirrt fort: „Sie waren maßgeblich am Bau der Mauer an den Magellan-Terrassen beteiligt, also können Sie uns auch sicher sagen, wie die Hohlräume dahinter zustande kamen, in denen man locker Leichen verstecken kann!“ Klaus starrt den Kommissar an, als wäre dieser nicht ganz dicht. „Klar kann ich das! Die müssen sein, damit die Standverschalung später wieder ungehindert ausgeschalt werden kann. Aber deswegen habe ich noch lange keine Leiche darin versteckt! Wer ist der Kerl überhaupt?“ schnaubt Klaus und pocht mit dem Zeigefinger mehrmals auf das Bild in der MOPO. „Das wissen wir noch nicht“, sagt Gruhl. „Sie können sich also nicht erklären, wie eine Leiche da hineingeraten könnte?“ hakt er nach. „Kein Stück!“ flucht Klaus, nimmt einen Schluck aus seiner Bierflasche, steht auf und knallt das Fenster zu. Die S-Bahnen fahren um diese Zeit im Fünf-Minuten-Takt. Dann setzt er sich wieder. Winterling lässt seine dünne Stimme vernehmen: „Frau Aydin kann es sich auch nicht erklären, und doch war sie da. Und jemand, der eine Leiche loswerden wollte, wusste von diesen Hohlräumen.“ – „Frau Aydin? Was hat die denn damit zu tun?“ Klaus zieht erstaunt beim Namen seiner neuen Chefin die Augenbrauen hoch. „Frau Aydin, von der wir wissen, dass sie seit kurzem Ihrer Kolonne vorsteht, war vor drei Jahren für den Straßenbau in der Hafencity zuständig. Ihre Arbeiter waren damit beschäftigt, die Straße über den Magellan-Terrassen zu verlegen, während Sie am Schmuckmauerwerk arbeiteten. Merkwürdiger Zusammenhang, nicht?“ Winterling fixiert Klaus. „Aber ich hab‘ die Tussi da nie gesehen“ wendet Klaus ein. „Sie scheinen keine große Meinung von Ihrer Chefin zu haben“, nölt Gruhl. „Nä, hab ich auch nicht. Die war mal Schiri bei einem Spiel, in dem ich
einen Bombentreffer gelandet habe, und die checkt nicht, dass ich gefoult wurde und dass kein Abseits war! Null Ahnung, die Frau! Überhaupt sollte man Frauen als Schiri verbieten! Die checken nix vom Fußball!“ Klaus echauffiert sich zum x-ten Mal. Die beiden Polizisten sehen sich vielsagend an.
Eine Weile herrscht Schweigen im Raum. Dann fragt Klaus: „Das bedeutet doch, dass Frau Aydin auch unter Mordverdacht steht, oder?“ – „Wir haben mehrere Verdächtige. Frau Aydin gehört dazu, aber Sie auch. Sie sagen, Sie haben keine Idee, wie die Leiche in die Mauer kam, und fürs Erste belassen wir es dabei. Falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, rufen Sie mich an“, sagt Winterling und legt seine Visitenkarte auf den Tisch. „Es ist sicher nicht das letzte Mal, dass wir uns begegnen“, schließt Gruhl die Unterhaltung, während sich die beiden Polizisten genauso einträchtig erheben wie sie vorher Platz genommen haben. „Sie hören bald wieder von uns“, sagt Winterling beim Hinausgehen.
Klaus schließt geräuschvoll die Tür hinter ihnen. Mit gerunzelter Stirn setzt er sich und trinkt langsam sein Bier aus. Erstmal Gedanken sortieren. Dann feixt er sich einen: „Ha, die blöde Kuh hängt da vollmit drin, das gönn‘ ich ihr!“ Doch im nächsten Moment fällt ihm ein, dass das für ihn ebenfalls gilt. Seine Stimmung sinkt auf den Nullpunkt. Er sitzt mit Defne Aydin in einem Boot. Er ist unrettbar verloren.
Montagabend
Im Fernsehen läuft nix dolles. Klaus ist müde und zermürbt, zappt seine Riesenglotze aus. Morgen ist wieder ein harter Tag, noch unerquicklicher als sonst, jetzt mit diesem Mordverdacht im Nacken. Auf den alten Tatort im Dritten kann er sich nicht konzentrieren. Krimi ist sowieso nicht so das Wahre heute, so holt er sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank, zündet seine 37ste Zigarette an und macht sich auf seinem Sofa lang. Er nimmt die MOPO in die Hand und betrachtet das Foto mit der eingerissenen Mauer eingehender. Ihm fällt auf, dass das ursprüngliche Muster der Mauer an vielen Stellen falsch wieder zusammengesetzt worden ist. Der das gemacht hat, hat keine Ahnung von der ausgeklügelten Anordnung der verschiedenen Ziegelsteinarten. Ganz schön stümperhaft, denkt Klaus bei sich. Aber da ist noch etwas, das in ihm ein seltsam unruhiges und doch vertrautes Gefühl weckt. Er kommt nur nicht darauf, was es ist. So beschließt er ins Bett zu gehen. Er wirft die Zeitung auf den Tisch und will gerade aufstehen, als das Telefon schrillt. „Jetzt noch?“ grummelt er genervt. Dabei ist es noch gar nicht so spät, für Klaus‘ Verhältnisse eher früh, halb zehn. Aber er ist so müde und abgekämpft, dass er nur mit Unlust den Hörer abnimmt. „Aschekowski“, nuschelt er hinein. „Hi Klaus, hier ist Georg!“ – „Mensch, du alter Nussknacker, lange nix gehört von dir! Wo hast du dich denn in letzter Zeit ́rumgetrieben?“ – „Viel geschäftlich unterwegs. Aber heute war ein Highlight. Hab‘ ́ne Menge Kohle verdient gerade und hätte Bock, noch ’nen kleinen Zug durch die Gemeinde zu machen, wie isses, kommst mit?“ fragt Georg beschwingt. „Och nö, heute nich mehr! Bin total fertig. Nich nur, dass mir die neue Bauingenieurin in letzter Zeit keine Ruhe lässt, hatte heute sogar Bullenbesuch! Stell dir das mal vor, die halten mich für ’nen Mörder! Weil hinter meiner Mauer inner Hafencity ’ne Leiche versteckt war. Hast das mitbekommen inner MOPO heute?“, fragt Klaus seinen besten Kumpel. „Jo, hab‘ ich gelesen. Wieso deine Mauer? Ach ja, hast ja damals daran mit gebastelt, nech? Und, winkt dir jetzt eigentlich ’ne große Karriere als Stuckateur?“ höhnt Georg genussvoll.
Georg Brettschneider, mit dem Klaus zur Schule gegangen ist und im selben Fußballverein spielte, zieht Klaus gerne mal damit auf, dass dieser mit Herz und Seele seine Maurerlehre durchgezogen hat. Georg war damals mit Klaus zusammen in der Lehre, brach sie aber nach eineinhalb Jahren ab. Weil er Geld verdienen wollte, wie er sagte, und nicht sein Leben lang malochen für ’nen Hungerlohn.
Klaus weiß nicht genau, wovon Georg eigentlich lebt, jedoch ahnt er, dass Georg hier und da mal ein krummes Ding dreht. Auch wenn Georg sich nie genau äußert, so sind seine „Geschäfte in der Auto- und Genussmittelbranche“ Klaus mehr als suspekt. Doch Georg schmeißt gerne die Runden nach den HSV-Spielen. Irgendwie hat er immer Geld dabei. Das macht die Ausflüge mit ihm und Matze, Klaus‘ zweitbestem Kumpel, immer unbeschwert und ausgelassen, muss Klaus doch nicht jeden Cent in der Hosentasche umdrehen. So hinterfragt Klaus Georgs Lebensunterhalt nicht weiter.
Georg will Klaus also auch heute Abend wieder einladen, doch seine Protzerei versetzt Klaus einen Stich. Dieser Stich veranlasst ihn zu erwidern: „Jedenfalls hat der Kerl, der die Leiche da eingemauert hat, von Schmuckmauerwerk nicht die geringste Ahnung. Das kann ich eindeutig besser, und ich habe damals gute Knete für gute Arbeit gekriegt. Allein wie der manche Steine gesetzt hat, unglaublich. Einfach die Ziegel zerhauen und schief und krumm inne Lücke gestopft. Mörtel ohne Ende verschwendet. Kommt mir fast so vor, als wenn der seine Lehre im Lotto gewonnen hat…“.
Klaus hört noch, wie Georg am anderen Ende der Leitung kurz die Luft scharf einsaugt, doch dann unterbricht dieser ihn schnell: „Wat is nu, kommst nun mit oder nich? Matze kommt auch und wartet im Bahnhofseck auf uns. Ich komm dich abholen, ok?“ Dieses OK duldet keinen Widerspruch, und so sagt Klaus: „Also gut, noch auf ein Bierchen. Bis gleich!“ – „Bis gleich!“ antwortet Georg kurz und legt ohne ein weiteres Wort auf. Müde und verwirrt legt Klaus den Hörer auf die Gabel des 80er-Jahre- Telefons, seufzt und verzieht sich stirnrunzelnd in seine winzige Nasszelle.
Zehn Minuten später klingelt es. Klaus nimmt seine Jeansjacke und die Schlüssel, drückt auf denTüröffner und geht, während er das Summen der Haustür unten hört, ins Treppenhaus hinaus und lässt seine Woh nungstür hinter sich zufallen. Mit wenigen Schritten ist er draußen auf der Straße. „Hi“, sagt er zu Georg. Klaus kommt es so vor, als ob er ungeduldiger wartet als sonst; er wirkt irgendwie nervös. Georgs grüne Augen funkeln im Licht der schmutzigen Straßenlaterne, fast ein wenig bedrohlich. Klaus muss unweigerlich an Moritz denken, den Nachbarskater, der letzte Nacht unversehens durch das defekte Küchenfenster in seine Wohnung eingedrungen war und ihm einen Besuch mit unsauberer Hinterlassenschaft abgestattet hat. Georg erwidert Klaus‘ Begrüßung mit einem leicht angespannten Lächeln. „Lange nicht gesehen, altes Haus, was?“ sagt Georg und klopft ihm freundschaftlich mit der Hand auf die Schulter. „Jo“, erwidert Klaus, wobei er sich eines leichten Schauders nicht erwehren kann.
Im selben Moment wird ihm plötzlich klar, dass seine unguten Gefühle ihn nicht getäuscht haben. Ihm fällt schlagartig ein, was ihm an dem Mauerfoto so bekannt vorkam: Diese unregelmäßig zerhauenen Ziegel und der viele Mörtel, das hatte er schon einmal gesehen! In der Maurerlehre. So sahen die meisten gemauerten Arbeiten seines Mitlehrlings und besten Kumpels aus. Die von Georg.
Doch diese Erkenntnis, so blitzartig sie über Klaus auch hereinbricht, kommt einen Sekundenbruchteil zu spät.
Sein Arm wird rasant gepackt und auf den Rücken gedreht, dann spürt er den kühlen Stahl einer scharfen Klinge an seiner Kehle. „Ganz ruhig, Kumpel“, zischt Georg ihm ins Ohr, „wir beide machenjetzt mal eine kleine Reise. Ich lad e dich exklusiv dazu ein!“ – „U…u..und Matze? Kommt der g…g…gar nicht mit?“ stammelt Klaus verzweifelt, während Georg ihn unmissverständlich in Richtung eines nagelneuen BMW X5 drängt. Klaus wehrt sich, hat aber keine Chance. Georg ist ihm Statur- und kräftemäßig überlegen. „Matze weiß gar nicht, dass wir zwei verabredet sind, also mach dir um den mal keine Sorgen“, raunt Georg und schubst Klaus mit diesen Worten durch die Beifahrertür des großen Sport-Utility-Vans. Er drängelt ihn brutal hinter das Lenkrad, ohne die Klinge nur einen Zentimeter von Klaus‘ Hals zu bewegen und setzt sich schwungvoll neben ihn auf den Beifahrersitz.
Ein Autoschlüssel wird Klaus vor die Nase gehalten. Georg sagt: „Bist der erste, der meine neue Kutsche fahren darf. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen. Anschmeißen, das Baby! Ich sach schon, wo es lang geht. Und immer schön nach vorne auf die Straße gucken, dann piekst auch nix!“ Klaus lässt brav den Motor an, kuppelt ein und gibt Gas. Der schwarze Luxusgeländewagenverschnitt setzt sich rasant durch die stillen Straßen von Eidelstedt in Bewegung.
Dienstagmorgen
Defne Aydin wacht eine halbe Stunde vor dem Weckerklingeln auf und fühlt sich wie gerädert. Doch sie kann nicht mehr schlafen, also beschließt sie, heute vor der Arbeit noch eine Runde zu joggen. Das würde ihre trüben Gedanken vertreiben, die sie seit dem Besuch dieser beiden unsympathischen Polizisten gestern Morgen hegt. Die haben sie doch glatt unter Mordverdacht gestellt! Als ob sie mit dieser Mauer was zu tun gehabt hätte. Ihre Leute waren damals damit beauftragt, die Straße, die über diese Mauer führt, zu errichten. Woher sollte sie denn wissen, wie viele Betonverschalungen sich dahinter verbergen? Das war Sache ihres Kollegen, der eine Reihe von Leiharbeitern beaufsichtigte, die damals mit dem Bau der Mauer beschäftigt waren. Außerdem war sie zu der Zeit im Urlaub und hat gar nicht im Einzelnen mitbekommen, wie sie entstand.
Sie quält sich aus dem Bett und schlüpft in ihre Joggingklamotten. Dann verlässt sie, schon trabend, ihre kleine Wohnung im ersten Stock und schlägt die Richtung in den Wald ein. Während des Laufens lässt sie sich das Programm ihres bevorstehenden Arbeitstages durch den Kopf gehen. Da ist zunächst die Einweisung der Klempnerkolonne, die heute mit dem Einbau der sanitären Einrichtungen im ersten Rohbau beginnen soll. Dann geht es weiter mit dem Ausheben des Kellergeschosses des Neubaus in der Querstraße. Für zwei Häuser ist schon das Fundament gelegt, die ersten Wände können hochgezogen werden. Sie wird wieder einiges von ihren Jungs abverlangen müssen. Es sind tüchtige Arbeiter. Besonders angetan ist sie von dem Maurer Klaus Aschekowski. Der arbeitet schnell, zuverlässig und präzise und hat darüber hinaus auch noch ein geschicktes Händchen für handwerklich anspruchsvolle Arbeiten. Belastbar ist er darüber hinaus auch noch und stets willig, Wochenendschichten zu übernehmen. Doch seine ständig nörgelnde Art geht ihr manchmal auf die Nerven. Wenn er doch nicht immer so schlechte Laune hätte! Fast kommt es ihr so vor, als ob er ihr persönlich gegenüber einen Groll hegt. Natürlich kennt sie die grundsätzliche Ablehnung und Ambivalenz der Männer ihr gegenüber, wenn diese mit ihr als weibliche und dann auch noch türkische Vorgesetzte konfrontiert werden. Damit umzugehen ist nicht immer leicht. Doch bei Klaus Aschekowski will das Eis einfach nicht brechen. Aber was will sie? Solange er seine Arbeit so macht wie bisher, soll sie doch zufrieden sein!
Wieder zuhause, duscht und frühstückt sie schnell, kramt ihre Sachen zusammen und verlässt eilig ihre Wohnung. Etwas die Zeit aus den Augen verloren, sie muss sich beeilen. Zum Glück ist heute kein Stau auf den Elbbrücken. So parkt sie ihren Fiat Punto rechtzeitig auf dem Handwerkerparkplatz und begibt sich zügig in den Container, in dem sich die Bauleitung befindet. „Moin!“, begrüßt sie ihren Chef. „Moin!“ erwidert er freundlich, fügt dann aber schnell hinzu: „Hat sich Herr Aschekowski bei Ihnen gemeldet?“ – „Nein, warum?“ fragt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. „Er ist heute Morgen nicht zur Schicht erschienen, die Kollegen vermissen ihn. Kennt man sonst gar nicht von ihm, ist doch einer der zuverlässigsten.“ – „Das ist schlecht, ich brauche ihn heute dringend bei den beiden Stadtvillen! Da sind wir sowieso schon im Verzug. Ich ruf‘ den jetzt mal an!“ – „Tun Sie das! Denken Sie an den Termin. Ich zähle auf Sie!“ Mit einem Augenzwinkern und einem leichten Klaps auf die Schulter verlässt ihr Chef den Container. Sie ärgert sich. Können die Kerle es denn nicht endlich mal lassen, sie immer wie ein kleines Mädchen zu behandeln?
Defne schnappt sich das Mobilteil, kramt die Kartei heraus, sucht und findet Klaus‘ Nummer und wählt. Es tutet siebenmal, achtmal, neunmal…niemand hebt ab. Sie wählt die angegebene Handynummer. Das Handy ist ausgeschaltet.
„Mist, wie erreiche ich den Kerl nun bloß“, fragt sie sich beunruhigt. Vielleicht weiß einer der Kollegen was. Sie geht hinaus auf die Baustelle und sieht nach den Arbeitern, die hier und da auf den Gerüsten oder hinter Baumaschinen hervor lugen. Der Polier steht ganz in der Nähe. „Moin, Sondermann, sagen Sie, haben Sie eine Ahnung, was mit Aschekowski sein könnte? Er hat sich nicht krank gemeldet, zuhause geht niemand ran und sein Handy ist ausgeschaltet.“ – „Hm, schon komisch“, brummelt Sondermann zurück. „Vielleicht iss er bei ́nem Kumpel versackt“, mutmaßt er. „Das ist einmal seit ich ihn kenne vorgekommen. Da hat er aber ́nen ordentlichen Rüffel vom Alten gekriegt, seit dem kommt er immer pünktlich, egal wie der HSV gespielt hat.“ – „Wie heißt denn der Kumpel, wissen Sie das?“ – „Soviel ich weiß, zieht er immer mit zwei Kumpels durch die Gemeinde, der eine heißt Matze oder so und der andere Georg.“ – „Matze? Ein Spitzname.“ – „Genau, richtig heißt der glaube ich Markus.“ – „Nachnamen wissen Sie wohl nicht?“ – „Von dem Markus nicht. Aber dieser Georg, der heißt Brettschneider mit Nachnamen. Wohnt glaube ich noch bei seinen Eltern in Ottensen.“ – „Danke, Sondermann. Ich will versuchen, Aschekowski aufzutreiben. Übernehmen Sie erstmal die Klempnerleute, wenn die anrücken, ok?“ – „Geht klar, Ma’am!“, frozzelt Sondermann. Mit einem schiefen Grinsen im Gesicht wendet sich Defne wieder dem Container zu.
Schnell hat sie die Nummer von Georg Brettschneider herausgefunden und wählt. Eine müde Frauenstimme meldet sich: „Brettschneider?“ – „Guten Morgen, mein Name ist Aydin, ich bin die Chefin von Herrn Klaus Aschekowski. Man hat mir mitgeteilt, dass ich bei Ihnen Herrn Georg Brettschneider finde, der ein Freund von Herrn Aschekowski sein soll. Kann ich ihn bitte einmal sprechen?“ Die Frau erwidert, diesmal mit deutlich wahrnehmbarem russischen Akzent: „Georrrg, mein Sohn? Nein, tut mirr Leid, der ist garr nicht da. Warrr die ganze Nacht schon wäg. Was wollen Sie denn von ihm?“ – „Ich bin auf der Suche nach Herrn Aschekowski, denn er ist heute nicht auf der Arbeit erschienen. Es stimmt doch, dass Ihr Sohn ein Freund von ihm ist?“, fragt Defne nach. „Jaja, das ist rrrischtisch. Klaus ist beste Kumpel von Georrrg, sie viel miteinanderrr machen.“ – „Haben Sie eine Idee, wo Ihr Sohn und Klaus abgeblieben sein könnten?“ – „Leiderrr nischt, Georrrg manchmal ist längerrr wäg, manchmal Wochen, isch weiß nischt wo. Errr sagt, Geschäfte. Klaus ist nie dabei, so isch weiß. Aber Georrrg mirrr erzählt, Klaus arrrbeiten in neue Stadtteil, wie noch heißen, Hafencity. Aber ist längerrr herr.“ Defne wird hellhörig. „Ach, Sie meinen, Klaus hätte mal in der Hafencity gearbeitet? Können Sie sich noch erinnern, wann das war?“ – „Hm, muss so vorrr zwei oder drei Jahrrän gewesen sein. Errr jetzt nicht mehrr dorrrt?“ – „Nein, jetzt nicht mehr. Frau Brettschneider, könnten Sie mich anrufen, wenn Ihr Sohn wieder auftaucht? Vielleicht hat er ja eine Idee, wo Herr Aschekowski abgeblieben sein könnte.“ – „Mach isch gärrrn, Frau…?“ – „Aydin. Noch eine letzte Frage: Kennen Sie den anderen Freund von Klaus und Georg, Matze? Und wenn ja, wie ist sein richtiger Name?“ – „Sischer, sischer! Matze, das ist Marrrkus Schmitt, nicht wahrrr?“ Georgs Mutter verrät Defne nicht nur die Telefonnummer von Markus Schmitt, sondern auch seine Adresse.
Dienstagnachmittag
Defne düst durch die Innenstadt. Nachdem sie den Arbeitstag mehr schlecht als recht hinter sich gebracht hat (natürlich ist die Klempnerriege mal wieder viel zu spät angerückt, und die Betonpumpe vergießt jetzt erst ihren Inhalt auf das Fundament, was Überstunden für Sondermann bedeutet), versucht sie nun, ihre Gedanken zu sortieren. Klaus Aschekowski hat also vor drei Jahren in der Hafencity gearbeitet. Ein Anruf bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber, der HTG Hoch-Tief-Bau Gadebusch GmbH, und sie wusste, dass Klaus einer der damals fremd angeheuerten Arbeiter ist, die für die Schmuckmauern zuständig waren. Sie war in der Zeit in Urlaub. So ist sie Klaus dort nie begegnet. Die Mauer, hinter der die Leiche gefunden wurde, ist also von ihm gebaut worden! Und nun ist er verschwunden. Wenn das reiner Zufall sein soll, will Defne sich in Hildegard umbenennen lassen! Sie ist sicher, dass Klaus Aschekowski etwas mit der Leiche zu tun hat, sonst hätte er sich nicht aus dem Staub gemacht. Sie muss ihn nur finden, um diesen beiden dämlichen Polizisten ein für alle mal klar zu machen, dass sie keine Mörderin ist.
Sie biegt in die Elbgaustraße ein. Fiese Gegend hier, denkt sie. Markus Schmitt wohnt in Eidelstedt. Ihn will sie nun nach Klaus‘ Verbleib ausfragen, denn telefonisch hat sie ihn nicht erreicht. Wenn er nichts Genaues weiß, würde sie danach nochmal bei Georgs Mutter vorbeifahren, in der Hoffnung, dass ihr Sohn doch noch nach Hause gekommen ist. „Ein Muttersöhnchen im Hotel Mama, ts, ts!“, denkt sie verächtlich.
Sie hält vor Markus Schmitts Haus, steigt aus ihrem Wagen und klingelt. Der Türsummer lässt sie eintreten, eine Tür öffnet sich kurz darauf gleich im ersten Stock. Ein junger Mann lugt aus der Tür hervor. „Ja bitte?“, fragt er höflich. Defne stellt sich vor, woraufhin der junge Mann sie in seine Wohnung bittet.
Markus, genannt Matze, ist ein durch und durch biederer Typ. Wie es sich gehört bietet er ihr einen Kaffee an und baut das entsprechende Equipment inklusive Milchkännchen und Zuckerdose auf dem wachstuchbedeckten Küchentisch vor ihr auf. Von ihm erfährt Defne, dass Klaus und Georg nicht nur gemeinsam zur Schule gegangen sind, sondern auch im selben Fußballverein spielten, wo auch schließlich er, Matze, die beiden kennen gelernt hat. Zu dritt sehen sie sich fast jedes Spiel des HSV an. Klaus sei der mit Abstand leidenschaftlichste HSV-Fan von den dreien. Ihm selbst gehe es eigentlich nur um guten Fußball, während Klaus aus seinem Verein einen richtigen Kult macht. Defne solle ihn mal sehen, wenn der in die Arena geht! Mindestens zehn Schals flattern dann um Klaus‘ Taille, und seine Jeansjacke sei über und über mit HSV-Symbolen bestickt. Ansonsten sei er aber ein echt dufter Kumpel und eine absolut ehrliche Haut. Auch wenn er manchmal mit seinem Holsten Edel einen über die Stränge schlägt.
Georg kommt bei Matze nicht so gut weg. „Von Anfang an war der mir unsympathisch. Der Typ sieht zwar richtig gut aus, aber der gibt an wie ein Sack Flöhe. Häufig hat er unsere Absacker nach den Spielen großkotzig geschmissen. Klaus war das immer recht, der hat ja keine Kohle, aber ich habe mehr als einmal meine Zeche lieber selber bezahlt“, unkt Matze. „Und ein Frauenheld ist der. Nichts, was der anbrennen lässt. Einmal hat der sogar versucht, meine Freundin anzubaggern. Zum Glück steht die nicht auf tätowierte Totenköpfe und Knopf im Ohr! Und was der beruflich macht, weiß kein Mensch. Aber ich sage Ihnen, auf ehrliche Weise kommt der nicht an so`n Haufen Knete. Damit wedelt der manchmal herum wie Rockefeller.“
Auf dem Weg zu Georgs Adresse denkt Defne über das nach, was Matze erzählt hat. Das lässt das Bild, das sie sich von Klaus Aschekowski ausgemalt hat, wanken. Danach ist Klaus der ehrliche von den beiden, und Georg ein schwarzes Schaf. Sie beschließt, vor Georg auf der Hut zu sein.
Dienstagabend
Sie lässt ihren Fiat ein paar Straßen von Georgs Adresse entfernt am Straßenrand stehen. Katastrophal hier mit den Parkplätzen! Zwei Autos hinter ihr parkt ein dunkler Audi. Das Fenster auf der Fahrerseite ist halb geöffnet. Defne bemerkt die Gestalt nicht, die bei genauem Hinsehen im Licht der Straßenlaterne im Wageninnern zu erkennen ist. Als Defne um die nächste Straßenecke biegt, öffnet sich leise die Tür. Die Gestalt steigt aus und schleicht unbemerkt hinterher.
Die Straße, in der Georg wohnt, ist eng, das Haus schmal und schmuddelig. Auf ihr Klingeln an der Haustür im dritten Geschoss öffnet eine hübsche Frau mit tizianroten Haaren im mittleren Alter die Tür. „Frau Brettschneider? Ich bin Frau Aydin. Ist Ihr Sohn zuhause?“ – „Er ist gerrrade zurück, Moment, isch rrrufe ihn. Georrrg? Georrrg, es ist Besuch fürr disch da!“ Ein gut gebauter großer Mann mit dunklen Haaren, grünen Augen und einem mahagonifarbenen Zickenbart, der sein spitzes Kinn (ungünstig, findet Defne) betont, taucht im Flur auf. Bei ihrem Anblick setzt er augenblicklich sein charmantestes Lächeln auf. Mit dem Ohrstecker im Ohr und, wie sie jetzt sehen kann, der Totenkopftätowierung auf dem rechten Oberarm hat er etwas von einem verwegenen Piraten. Der Aufreissertyp schlechthin. „Johnny Depp aus dem Fluch der Karibik. Aber ohne mich“, denkt sich Defne kämpferisch und setzt ebenfalls ihr allerschönstes Lächeln auf. „Was kann ich für Sie tun?“, säuselt Georg. „Vielleicht können Sie mich zunächst einfach hereinbitten?“, erwidert Defne mit der schwülsten Stimme, die sie aufbieten kann.
Georg führt Defne durch die Wohnung in ein kleines Zimmer, das aussieht, als wohne ein
fünfzehnjähriger Junge darin. „Ihr Zimmer?“, fragt Defne, nicht mehr ganz so schwül. „Klein aber mein!“, erwidert Georg mit einer pathetischen Geste. „Aber nun verraten Sie mir doch, was Sie in mein kleines Reich führt?“, fragt Georg leise und beginnt, sich ihr langsam zu nähern. Defne weicht zurück. „Ich mache es kurz. Ich vermisse einen meiner besten Arbeiter. Klaus Aschekowski. Sie sind sein bester Kumpel. Wissen Sie, wo er sich zurzeit aufhält?“ Defnes Ton ist schneidend. Die unerträglich schwülstige Atmosphäre bricht augenblicklich wie ein Kartenhaus zusammen.
Georg wird ernst. Sein Gesicht nimmt einen fast beleidigten Ausdruck an. Er setzt sich auf seine Teenager-Couch, macht sich lang und legt die Beine hoch. „Ich habe Klaus schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. War viel unterwegs. Geschäftlich.“ Das letzte Wort betont er stark. „Er ist nicht zur Arbeit gekommen, sagen Sie? Da machen Sie sich mal keine Gedanken, der säuft öfter mal einen über den Durst. Wahrscheinlich liegt der stockbesoffen bei sich zuhause neben dem Bett. Der berappelt sich schon wieder und steht morgen früh bestimmt auf der Matte. Außerdem ist er ja wohl nicht unersetzlich, was?“ Defne entgegnet scharf: „Momentan ist jeder in meiner Arbeiterkolonne unersetzlich, ich brauche jeden Mann. Aber besonders brauche ich Klaus Aschekowski. Ich brauche ihn für eine ganz bestimmte anspruchsvolle Arbeit. So anspruchsvoll wie das Mauerwerk an den Magellan-Terrassen. Daran hat er maßgeblich mitgearbeitet, wussten Sie das?“
Mit einem Ruck steht Georg auf, sein Gesicht ist jetzt vor Zorn verzerrt. Drohend baut er sich vor Defne auf, so dass sie unwillkürlich ein paar Schritte rückwärts taumelt: „Ha, Mauern bauen! Als wenn das so schwer sein soll! Gerade diese bekloppte Mauer da in der Hafencity, die Technik ist sowas von einfach! Ich weiß, wie man die einsetzt, habe auch mal eine Maurerlehre gemacht! Völlig unter meinem Niveau, habe ich abgebrochen! Da gehört nun wirklich nix dolles zu, so eine Mauer zu basteln! Ein paar Läufer, ein paar Binder, und fertig! Ich weiß gar nicht, was an Klaus so besonders ist, dass du den unbedingt wieder haben willst, Tussi!“ Georg redet sich in Rage, vergreift sich im Ton, schreit sie fast an, bemerkt es endlich und hüllt sich dann in Schweigen. Schmollend verschränkt er vor ihr die Arme. „‘tschuldigung“, murmelt er schuldbewusst. (Anmerkung der Autorin: Im wahren Leben würde sich so ein Kerl niemals entschuldigen ;-))
Defne ist von diesem emotionalen Ausbruch erstmal baff. Dann fasst sie sich, fragt noch einmal: „Sie können mir also nicht sagen, wo sich Herr Aschekowski befindet?“ – „Nein.“ – „Haben Sie vielen Dank. Einen schönen Abend noch!“ Defne macht auf dem Absatz kehrt und verlässt so schnell sie kann die Wohnung.
Dienstagnacht
Auf der Straße angekommen, holt sie tief Luft. Was für ein unangenehmer Zeitgenosse! Matze hat Recht gehabt. Neben der Arroganz und Überheblichkeit, die Georg eben an den Tag gelegt hat, zeig er aber noch etwas ganz anderes: Maßlose Eifersucht auf seinen Kumpel. Was hat er gesagt? Er weiß, wie man die Technik einsetzt… und da gehört nix dolles zu? Defne überlegt kurz, dann gehen ihr gleich mehrere Lichter auf. Hat Georg selbst sich an der Mauer zu schaffen gemacht? Und was ist nun mit Klaus? Womöglich hat Georg was mit seinem Verschwinden zu tun! Hat Klaus vielleicht etwas herausbekommen?
Mitten in ihren Gedanken hört sie hinter sich eine Tür klappen. Schnell huscht sie in den Schatten einer Einfahrt und späht hinüber auf die andere Straßenseite. Sie erkennt Georgs Gestalt, die sich eilig auf dem Gehweg davon macht. Katzengleich schleicht sie hinterher. An der nächsten Kreuzung steigt Georg in einen großen glänzenden BMW, eine Art Geländewagen. Während der Motor schnurrend anspringt, flitzt sie geduckt durch die Schatten der Straßen zu ihrem Punto, ohne dabei den Geländewagen aus den Augen zu lassen. Schnell schmeißt sie sich hinter das Lenkrad, lässt den Motor an und folgt dem großen Van unauffällig in Richtung Autobahn.
Hinter ihr setzt sich der Audi mit ausgeschalteten Scheinwerfern in Bewegung.
Die Fahrt geht mehr als drei Stunden auf der Autobahn Richtung Osten. Defne hat Mühe, mit den PS des BMW mitzuhalten und tritt das Gaspedal ihres kleinen Fiat Punto fast die ganze Fahrt bis zum Anschlag durch. Endlich nimmt der BMW eine Ausfahrt und es geht langsamer auf Landstraßen weiter. Die Ostsee ist nicht mehr weit, vermutet Defne. Sie folgt dem BMW in gebührendem Abstand in der Hoffnung, bisher nicht entdeckt worden zu sein. Kurze Zeit später kommen sie in eine Ortseinfahrt. Ein paar Straßen weiter kann Defne einen kleinen Hafen erkennen, in dem Fischerboote und ein paar Segelyachten liegen. Weiter vorne sieht sie, wie der BMW vor einem alten Haus direkt am Hafenbecken hält. Defne parkt ihren Punto unweit davon in einer Seitengasse und steigt aus. Sie lugt um die Häuserecke und beobachtet, wie Georg aussteigt und in dem Haus verschwindet.
Mit schnellen Schritten im Schatten der Häuserzeile erreicht sie das verfallene Haus, in dem Georg verschwand. Sie nimmt es in Augenschein und bemerkt links neben der Hauswand eine Kellertreppe. Allerlei Gerümpel, alte Fischernetze und Schrotteile liegen neben und auf der Kellertreppe herum. Flink hastet sie um das Gerümpel herum die Stufen hinunter und probiert, ob die Tür zufälligerweise offen ist. Fehlanzeige! Doch die Tür und das dazu gehörige Schloss sind alt und von der Seeluft verwittert. Sie blickt sich im umliegenden Plunder um. Da liegt eine rostige Nockenwelle am Rand der Treppe, die sie sich nun schnappt und am Schloss ansetzt. Wäre doch gelacht! Nach einigen Hebelversuchen an der Klinke springt die Tür mit einem Knacken auf. Mist, hoffentlich hat sie nicht zu viel Lärm gemacht!
Sie hält inne und lauscht. Stille. In der Ferne hört sie eine Kirchturmuhr schlagen: …neun, zehn, elf…oder zwölf? Sie hat komplett ihr Zeitgefühl verloren. Wieder Stille. Nach einer ganzen Weile dringen leise Stimmen an ihr Ohr, ab und zu unterbrochen von dumpfen hohl klingenden Schlägen. Zwei Männer, die sich streiten…aber was ist das dumpfe Dröhnen? Sie merkt, wie sich langsam Angst in ihr breit macht. „Reiß dich zusammen!“ ermahnt sie sich selbst. Sie lauscht weiter und betritt vorsichtig mit mulmigem Gefühl das Kellergeschoss.
Finsternis umgibt sie. Langsam tastet sie sich mit den Händen an der Wand vorwärts, vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzend. Plötzlich streift etwas ihr Bein. Zu Tode erschrocken weicht sie zurück, und das Etwas verschwindet fauchend hinter der offenen Kellertür.
Sie spürt ihr Herz bis zum Hals klopfen. Nur mit Mühe bekommt sie sich wieder in die Gewalt und kann gerade noch ein lautes Aufkreischen verhindern. Eine Weile bleibt sie keuchend in der Dunkelheit stehen. Dann tastet sie sich vorsichtig weiter. Allmählich werden die Stimmen lauter. Defne erreicht eine Tür, unter deren Spalt ein schwacher Lichtschein hervorschimmert. Sie legt das Ohr daran und lauscht. Die lautere Stimme ist die von Georg. Sie horcht noch einmal ganz genau hin, um auch die andere Stimme erkennen zu können. Ja, das ist Klaus!
Um zu verstehen, was geredet wird, presst sie ihr Ohr platt an die kalte Stahltür. Die Stimmen werden laut und überdeutlich, plärren in ihrem Ohr, verstärkt durch das Metall. Georg sagt gerade: „…wer soll denn das glauben? Die beiden Bullen sind doch dümmer als die Polizei erlaubt, die kriegen nie raus, wer das Loch wieder zugemauert hat. Es sei denn, du steckst denen das!“– „Mensch, Alter, ich hab‘ das Foto von der Mauer gesehen, das sieht doch `n Blinder mit Krückstock, dass du das warst!“ Klaus Stimme klingt ziemlich wütend. „Du hast sie kaputt gemacht und in deiner luschigen Art wieder zusammengefriemelt, das kenn ich doch von dir, du alter Nussknacker! Und dann hast du da die Leiche hinter versteckt! Das soll ich einfach so übersehn‘ oder was? Nun mach‘ mich endlich los, du alte Schabracke!“ Klaus‘ Stimme wird begleitet von dem dumpfen Dröhnen. Georg wird jetzt auch laut: „Ich hab‘ dir doch die ganze Zeit gesagt, dass ich zum Verstecken der Leiche gezwungen wurde, und umgebracht hab‘ ich den Kerl nicht. Das musst du mir glauben! Ich bin kein Mörder! Und wenn du den Bullen das steckst, bin ich geliefert!“ schreit er. „Was machst du auch so`n Scheiß!“ schreit Klaus zurück.
Eine Weile herrscht Schweigen. Dann sagt Georg, in versöhnlichem Ton: „Klaus, ich kann dich an `nem Geschäft beteiligen. In der Genussmittelbranche boomt das jetzt, guck dir mein Auto an. Kannst auch mitverdienen. Steig mit ein, und du kannst dir ́ne bessere Butze leisten, und deine Claudia kriegst du mit der Knete auch rum!“ – „Vergiss es, Alter, ich pfeif auf dein‘ falschen Zaster! Krumme Dinger mach ich nich mit!“ Klaus‘ Stimme überschlägt sich fast vor Wut. Defne hört die dumpfen hohlen Trommelschläge erneut. „Krumme Dinger? Das siehst du völlig falsch, Klaus, es handelt sich um lukrative Einnahmen.“ Georgs Stimme wird nun eiskalt. „Aber ich sehe schon, du kannst den Wert meines Angebotes wohl nicht erkennen.“
Einen Moment lang ist es still. Unvermutet hört Defne Schritte, die sich ihrer Tür nähern. Ihr bleibt die Luft weg. Gerade als sie sich anschickt zu flüchten, stoppen die Schritte und sie hört, wie jemand in einer Kiste oder ähnlichem kramt. Dann entfernen sich die Schritte wieder. „Was soll das denn, bist du bescheuert, steck sofort das Ding weg!“ brüllt Klaus. Die dumpfen Schläge hämmern stärker als zuvor.
Defne schnürt es langsam die Kehle zu. Sie drückt leise auf die Türklinke. Gottseidank, offen! Mit größter Anspannung gelingt es ihr, die Stahltür geräuschlos zu öffnen. Weil sich die Tür nach innen öffnet, ist es Defne möglich, unbemerkt aus dem Dunkel in den schwach erleuchteten Kellerflur zu spähen. Auf dem Boden und an den Wänden liegt allerlei Zeugs herum, hauptsächlich Bootsbedarf. Links steht eine alte Seetruhe, vermutlich die Quelle der Kramgeräusche. Ganz am Ende hinter einem Haufen signalorangefarbener Kugelfender sieht sie Georg stehen. Ihm gegenüber sitzt Klaus auf einem alten Ölfass. Seine Hände sind auf seinem Rücken gefesselt, festgezurrt an ein Abwasserrohr in der Kellerecke. Er brüllt wie ein Wahnsinniger. Immer wieder hämmert er wie wild mit den Hacken gegen das Fass. Georg hält in der rechten Hand eine Pressluftharpune, richtet sie auf Klaus und will gerade zum Schuss ansetzen.
Blitzschnell schießt Defne aus ihrem Versteck hervor, nimmt einen der Kugelfender ins Visier, holt mit dem linken Bein aus und ballert den Fender mit voller Wucht in Georgs Gesicht. Beinhart getroffen stürzt dieser hintenüber und knallt der Länge nach hin. Die Harpune fliegt in hohem Bogen durch den Flur und landet direkt vor Defnes Füßen. „Tor!“ schreit Klaus mit verzweifelter Begeisterung und trampelt noch stärker als zuvor gegen das leere Fass. Er begreift noch gar nicht, welchem Schicksal er da gerade um Haaresbreite entgangen ist.
Defne schnappt sich die Harpune und richtet sie im Nu auf Georg. „Schluss mit Lustig, du verkappter Pirat! Los, mach die Fesseln ab!“ schnauzt sie Georg mit einer Kopfbewegung Richtung Klaus an. Mit verdattertem Gesicht erhebt sich Georg langsam mit erhobenen Händen, dreht sich zu Klaus um… prompt bückt er sich, packt den Fender und schleudert ihn auf Defne. Diesmal stürzt sie zu Boden.
Unverzüglich steht Georg über ihr und hält ihr die Harpune ins Gesicht. „So, Prinzessin, Feierabend, für dich und deinen Mauerhelden!“
In diesem Moment fliegt krachend die Stahltür hinter ihnen auf. Winterling und Gruhl, die beiden „dämlichen“ Kommissare, stürmen den Keller und richten die Waffen auf Georg. „Harpune ́runter!“, befiehlt Winterling. Georg wird leichenblass, hört aber nicht auf, Defne mit der Harpune zu bedrohen. „Waffen weg, ich durchbohr sie sonst!“, schreit er.
Ein Schuss kracht. Georg wird noch blasser, bekommt einen erstaunten Gesichtsausdruck, zieht noch im Fallen am Abzug und sackt seitlich zusammen. „Nein!“, brüllt Klaus. Der Harpunenpfeil schießt aus dem Lauf. „Auuuuh!“, jault Defne laut auf. Der Pfeil bohrt sich in ihren rechten Oberarm.
Mittwochmorgen
Draußen geht langsam die Sonne über der Ostsee auf. Auch dieser Tag wird ein wunderschöner Frühlingstag werden. Die morgendliche Stille, normalerweise in dem kleinen Fischerort um diese Zeit nur von Möwengeschrei und Amselgesang durchdrungen, muss heute dem hektischen Treiben von Polizei- und Notarztwagen weichen. Blaulicht flackert über das Hafenbecken, reflektiert von der schwarzglänzenden Wasseroberfläche zwischen den dümpelnden Booten. Durch Polizeifunk verzerrte Stimmen hallen von den Kaimauern und Hauswänden wider.
Defne liegt in einem der Krankenwagen. Der Notarzt hat ihr den Pfeil ruck zuck entfernt. Lange hat sie nicht auf ärztliche Hilfe warten müssen. Schon zehn Minuten nach den turbulenten Ereignissen kamen zwei Sanitäter in den Keller hinunter und versorgten sie. Sie brachten sie auf einer Trage aus dem Keller und behandelten sie in einem der Krankenwagen weiter. Nun hat sich der Schmerz abgeschwächt, stattdessen beginnen ihre Nerven zu flattern. Sie lässt ihren Tränen freien Lauf.
Klaus steht draußen vor dem offenen Notarztwagen und sieht bedröppelt zu seiner Chefin hinein. Defne sieht ihn, winkt ihm aufmunternd zu. „Geht schon wieder“, flüstert sie. Klaus druckst herum. „Boss, Sie…ich meine, Frau Aydin…“, stottert Klaus. „Ja?“ – „…das…das war ein bundesligareifer Schuss. Der hätte Chancen auf ein Tor des Monats gehabt, echt jetzt. Dagegen war mein Treffer damals gegen den SV Meppen…nix. Auch wenn…“, Klaus druckst noch mehr ́rum: „…auch wenn…“, er nimmt allen Mut zusammen: „…das war niemals Abseits, der war gültig, im Ernst!“ Klaus wird knallrot und schluckt. „So, das wollte ich Ihnen schon immer mal sagen, nu isses `raus…“. Defne starrt ihn von ihrer Liege aus verblüfft an. Eine Sekunde lang weiß sie nicht, wovon er redet, dann fällt endlich der Groschen. „Der kleine Stürmer von Altona 93…wieso bin ich nicht schon eher darauf gekommen?“ Sie schlägt sich mit der linken Hand gegen die Stirn und fängt an zu glucksen. Aus dem Glucksen wird lautes Lachen, sie kann gar nicht mehr aufhören. Klaus staunt nur noch. Dann fällt auch er in Defnes Gelächter ein. Ein dicker Knoten löst sich in ihm.
Erleichtert schüttelt er eine Zigarette aus seiner Jeansjackentasche, schiebt sie zwischen die Lippen und zündet sie an. Er inhaliert den Rauch tief. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages wärmen sein müdes Gesicht.