Verantwortlichkeit im Patriarchat

Psychotherapeuten sehen es als ihre Passion an, an der Seele erkrankte Menschen dahin zu bringen, dass sie in dieser Gesellschaft wieder funktionieren, und nicht, dass es ihnen besser geht. Das heißt, vordergründig schon, denn anders ausgedrückt: Dass es ihnen gut geht damit, mit den Missständen, mit denen sie täglich konfrontiert sind, klar zu kommen, sich zu arrangieren, es zu ertragen, dass ihnen ab und zu Unrecht geschieht. Die Psychotherapeuten helfen ihnen dabei, sich ein dickes Fell wachsen zu lassen, die Dinge nicht (zu sehr) an sich heran kommen zu lassen. Gelassen mit den Umständen umzugehen, versöhnlich mit den Ungerechtigkeiten der Vergangenheit abzuschließen, nach vorne zu gucken, in die Zukunft zu sehen, das Hier und Jetzt einfach akzeptieren, wie es ist. Sie transportieren Botschaften wie: „Wie du mit den Äußerlichkeiten umgehst, entscheidest du ganz allein. Es ist nicht die Frage, was dir geschieht, sondern wie du damit umgehst. Du kannst auf tausende verschiedene Arten damit umgehen, probiere es doch mal aus, anders zu reagieren als sonst. Mit Humor z. B. als mit Ärger. Du wirst sehen, die Umwelt wird deine Reaktionen spiegeln.“

Das alles ist zunächst richtig. Es hilft tatsächlich, gelassener mit den Umständen umzugehen, wenn sie einfach akzeptiert werden. Wenn sie als unveränderbare Größen angenommen und hingenommen werden, brauche ich keine Kraft mehr dafür aufzuwenden, sie ändern zu wollen. Der Kampf gegen Windmühlen ist ohnehin verloren.  Ich kann mich also ganz auf mich und meine eigenen Änderungen konzentrieren, meinen Weg finden, ihn konsequent gehen. Nicht nach links oder rechts sehen, den Blick klar nach vorn richten, zuversichtlich und mit geradem Rücken mich dem stellen, was auf mich zu kommt, ganz egal, was es ist, denn wir wissen schließlich alle nicht, was uns blüht.

Doch so einfach funktioniert es bei Frauen wie mir, die das Patriarchat begriffen haben, nicht mehr, wie ich am Ende des letzten Jahres sehr schmerzhaft feststellen musste. Ich habe mich in diesem Jahr fortgebildet, eine Prüfung mit Erfolg absolviert, beinhart verhandelt mit drei verschiedenen Arbeitgebern um vernünftige Bedingungen und einigermaßen angemessenes Gehalt, mich dafür jeden Morgen um vier aus dem Bett erhoben, aufgrund von Probezeiten auf Urlaub verzichtet (und trotzdem welchen durchgesetzt am Ende), mich mit dümmsten Kollegen und schwierigsten Kunden abgegeben, mich mit unwürdigen Arbeitsplatzbedingungen arrangiert, (fast) immer mit einem Lächeln auf den Lippen und der Zuversicht, dass sich alles zum Besten wendet. Darüber hinaus habe ich mich für Verbesserungen engagiert, ohne zu ahnen, dass das gar nicht erwünscht war. Mit dem Ergebnis, dass ich alles wieder verlor, mir wurde noch in der Probezeit gekündigt. Weil ich nicht in das dortige Team passte, nein, ich gehe noch weiter, weil ich nicht mehr in die Arbeitswelt passe. Weil ich das System, das Patriarchat, das dahinter steckt, durchschaut habe. Für mich als 55jähre Frau und immer noch alleinerziehende Mutter eine Katastrophe. Dies ist die Konsequenz für mein aufrichtiges, ehrliches und unbeugsames Handeln und Denken und für mein in den letzten Jahren angeeignetes Wissen und meine Erkenntnisse, die mich nun die Existenz kosten kann. Ich spüre meine Ohnmacht und Verzweiflung, nicht aus diesem Käfig ausbrechen zu können.

Andere Frauen, die noch im Arbeitsverhältnis stehen, sagen mir tatsächlich ins Gesicht (ohne es böse zu meinen), dass es Schlimmeres gibt als den Arbeitsplatz zu verlieren. In diesem Land verhungert man nicht. Es gibt Länder, da verhungert man ohne Arbeit tatsächlich, aber hier doch nicht, es ist ja alles abgesichert, ich kann froh sein, in so einem reichen Land wie Deutschland zu leben. Schlimmstenfalls müsste ich eben von Hartz IV leben. Als ich diese Aussicht fröhlich lachend mit triefendem Galgenhumor in die KollegInnenrunde (Kollegen, nur eine Kollegin) posaunte, war aber niemand darunter, der mir dazu gratulierte. Nein, betretenes Schweigen. Kein Wunder, niemand will in Hartz IV landen, und die, die es trifft, werden behandelt, als sei dies ihr persönliches Versagen und ihre eigene Schuld. Denn jeder ist schließlich für sich selbst verantwortlich, doch nicht die Umstände oder irgend ein Arbeitgeber. Passt man nicht ins Team, hat man eben selbst alles dafür getan, dass es so gekommen ist.

„Wir suchen uns das alles selbst aus!“, ruft mir das Patriarchat entgegen. Nein, es ist nicht „das Patriarchat“, das mir so etwas sagt. Es sind Mitmenschen, die diese Überzeugungen woanders gelernt haben, und ich weiß auch sehr genau wo. Ich war selbst mal dieser Überzeugung, als ich sie in einer Psychotherapie lernte. Sie stimmt auch, solange diese „Entscheidungen“ völlig unreflektiert und unbewusst innerhalb der angelernten rigiden Verhaltensmuster geschehen, in die jedes Individuum im Patriarchat mehr oder weniger verstrickt ist. Mit schlafwandlerischer Sicherheit z. B. sucht sich ein Mensch genau den Partner aus, der dem problematischsten Familienmitglied am ähnlichsten ist. Die Tochter sucht den gefühlskalten Vater. Der jüngere Bruder die ältere dominante Schwester, unter der er litt. Der Sohn die übergriffige Mutter usw., und das nur, weil dies in der Kindheit gelernt wurde, man kennt nichts anderes und das bedeutet (trügerische) Sicherheit. Doch durch das Verinnerlichen dieser Aussage und der Arbeit damit war ich gezwungen, meine eigenen Ansichten in Frage zu stellen und zu überprüfen, letztlich zu revidieren, was sehr heilsam war. So lernte ich Selbstreflexion, Verantwortung für mich zu übernehmen, was ich (und so viele Menschen im Patriarchat) vorher gar nicht konnte.

Dieses Übernehmen der eigenen Verantwortlichkeit hat aber genau da Grenzen, wo Verantwortung aufoktroyiert wird, wo keine ist. Man nennt das Victimblaming. Ein Mensch ist verantwortlich für das Unrecht, das er einer anderen Person angetan hat, und dreht einfach den Spieß um, um die Tat dem Opfer anzuhängen. Die Umwelt fällt auch noch darauf herein, und das Opfer ist doppelt geschädigt. Jeder Mensch, Mann wie Frau, ist im Patriarchat an Patriarchose (Stockholmsyndrom) erkrankt, und ein Symptom dieser ist das Verantwortlichmachen des Individuums für alles, was ihm geschieht. So muss an den Missständen nichts geändert werden, und die Menschen, die das nicht durchschaut haben, spielen da munter mit. Ich erwähnte diese notorische Täter-Opfer-Umkehr bereits in meinem Artikel über Bewusstsein und Wahrheit. „Sieh zu, wie du klar kommst!“ ist mir in meinem Leben öfter als genug kaltschnäuzig vor die Füße geschleudert worden, selbst dort, wo ich Schutz suchte. Patriarchale Verhaltensweisen sind das Gegenteil von artgerechtem Verhalten, wie es noch in der Matrifokalität unserer Ahninnen gelebt werden konnte. Aber wir haben es verlernt, wir patriarchalen Menschen können es gar nicht mehr, weil niemand im Patriarchat Matrifokalität erlebt hat.

Es sei denn, wir lernen aus der Menschheitsgeschichte, und zwar die Fakten und nicht das, was durch die herrschende Lehre propagiert wird, und besinnen uns auf unsere natürlichen Fähigkeiten des Zusammenlebens. Lernen können wir außerdem von den wenigen matrifokalen Gemeinschaften, die es heute noch gibt, z. B. den Mosuo in China und noch einigen anderen.

15 Antworten auf „Verantwortlichkeit im Patriarchat“

  1. Ich habe mindestens drei Mal genau das Selbe erlebt und schliesse mich Deinen Ausführungen 200% an. Genau so ist es. Frauen werden für ihre Klugheit und oft auch Tüchtigkeit abgestraft.
    Grausam! So, genau so funktioniert das Patriarchat seit einigen tausend Jahren. Das Patriarchat hält sich nur mit Lug, Trug und Gewalt aufrecht; und über den Rücken der Frauen. Ich hoffe doch, dass Du baldmöglichst eine andere gut bezahlte Stelle findest. Ansonsten,…… schreibe ein Buch
    über diese Wahrheiten. Ich kann es z.Z. leider noch nicht, ich bin nämlich immer noch blockiert (paralysiert) durch das Patriarchats-Trauma und die ständige Opfer-/Täter- Umkehr.

    1. Ja, ich glaube, das mit dem Buch ist überfällig. Auf jeden Fall habe ich eines gelernt aus der jetzigen Misere: Kein einziges Blatt mehr vor den Mund zu nehmen. Auch nicht gegenüber Frauen, die noch Nachholbedarf haben. Sie müssen damit leben, dass ich es ihnen um die Ohren knalle. Im Unbeliebtmachen war ich schon immer gut 🙂

  2. Also eigentlich ist das nicht an sich herankommen lassen eine gute Idee für Männer. Statt Hasskommentare zu schreiben könnten sie sich das was ihren Ansichten widerspricht doch einfach nicht so zu Herzen nehmen. Frauen zuhören werden sie sowieso nicht.

    1. Das mit dem nicht so zu Herzen nehmen wird mir als Frau ja auch immer wieder gern geraten. Ich soll nicht alles auf die Goldwaage legen, nicht alles in den falschen Hals kriegen, während Männer missverstehen was das Zeug hält und nicht daran denken, ihre Sicht der Dinge zu hinterfragen. Dass das Problem bei ihnen liegt, hören sie nicht gern, deshalb schreiben sie lieber Hasskommentare statt sich zu reflektieren. Irgend ein Ventil braucht ihre gekränkte Eitelkeit ja. Gelassenheit kommt aus einem Wissen um die eigene Person heraus, und aus seiner Würde, nicht aus dem gekränkten Ego. Das weiß nämlich nicht, wer es ist, sondern hält sich nur für das, was es gern sein will.

      1. Ja das mit dem nicht so zu Herzen nehmen kenne ich auch, aber ich hab noch nie mitbekommen, dass sowas zu einem Mann gesagt wurde. Aber da alles in unserer Gesellschaft auf Männer ausgelegt ist und immer nur aus ihrer Sicht berichtet wird, werden die meisten nicht auf die Idee kommen umzudenken.

  3. Wie Recht du hast! Ich habe genau diese Situationen am Arbeitsplatz erlebt, und auch meine Arbeitsverhältnisse waren meist kurzfristig. Mir steht aus gesundheitlichen Gründen eine Umschulung noch bevor, wobei mir der Sinn gerade entgeht. Ich passe nicht in diese Denke, dass die Männer- Akademiker, „feminine“ Frauen, Ja-SagerInnen- grundsätzlich das Sagen haben, frei von Sachkenntnis oder praktischen Fähigkeiten. 30 Jahre lang hab ich mir den Ar*** aufgerissen, mich weitergebildet, meine Kinder vernachlässigt (aus meiner Sicht, nicht real), Mißbrauch und Ausbeutung verdrängt, und wenn die Gesundheit nicht mehr mitspielt und frau wagt, die Ursachen zu benennen, dann wird ihr die „Opferrolle“ unterstellt. Aber die Einzigen, die von dieser Anschuldigung profitieren, sind die Täter. Nur wenn ich mich als Opfer benenne gibt es einen Täter, gibt es ein Verbrechen. Der ganze Mist mit „Überlebende“ oder gar „Erlebende“ dient doch nur der Verschleierung der Tatsachen. Kein Opfer kann die Tat ungeschehen machen, was im Grunde das ist, was von uns verlangt wird. Hör auf, dich als Opfer zu bezeichnen, dann bist du kein Opfer mehr, und ES GIBT KEINE TAT! Sie wollen, dass wir sie entlasten. Das ist un-menschlich.

    1. Es ist extrem wichtig, zwischen Opferstatus und Opferrolle zu unterscheiden. Der Unterschied ist: Den Status haben die Opfer, und zwar ein Leben lang. Sie können ihn nicht ablegen. Die Rolle übernehmen die Täter und werfen sie gleichzeitig den Opfern vor. Sie können sie jederzeit ablegen, wenn sie es wollten. Tun sie aber nicht, denn das Umfeld fällt darauf herein und sie sind fein raus. Dass das Wort „Opfer“ ein Schimpfwort geworden ist, ist perfidestes Victimblaming und macht sie unsichtbar. Selbst Alice Schwarzer fällt da immer noch drauf herein, wie in diesem Artikel zu lesen ist, Zitat: „Sobald Opfer sich wehren, sind sie keine Opfer mehr!“ Was für ein Irrtum! https://www.aliceschwarzer.de/artikel/es-geht-immer-um-scham-335107

  4. …ich habe viele patriarchalische Frauen kennengelernt, das tut es weh. Die Engagements für die Frauenbewegung, die Emanzipation, die Solidarität und die Selbstachtung…dass sollen wir nicht verlieren. Ich freue mich auf diesem Blog. In deutsch Sprache finde man wenige Links über das Thema Patriarchat. Es ist Schade…aber ist die Realität.

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