Existenz, Bewusstsein und Wahrheit

Die Spezies Mensch lebt auf diesem Planeten seit etwas mehr als einer Million Jahren. Sie entwickelte sich aus Lebewesen, von denen auch die heutigen Menschenaffen, die nächsten Verwandten, abstammen. Daraus folgt, dass Menschen zur Fauna des Planeten Erde gehören. Die Spezies Mensch hat im Laufe ihrer Entwicklung ein Bewusstsein erlangt, das ihr vieles ermöglichte. Leider führte dieses Bewusstsein auch in eine Fehlentwicklung, die wir heute in der patriarchalen Gesellschaft erkennen können, welche den überwiegenden Teil des Planeten bevölkert.

Die Menschen wurden irgendwann in ihrer Entwicklungsgeschichte sich ihrer selbst bewusst. Inzwischen wissen wir, dass Menschen nicht die einzige Spezies ist, die über diese Fähigkeit verfügt. Möglicherweise ist dieses Selbst-Bewusstsein im Tierreich sogar viel weiter verbreitet als bisher angenommen.

Doch Bewusstsein ist nicht identisch mit Existenz. Für bewusste Lebewesen wie die Spezies Mensch müsste dies eigentlich offensichtlich sein. Ist es aber nicht. Descartes hat gesagt: „Ich denke, also bin ich.“ Das ist zwar richtig, mit meinen Worten formuliert lautet die Aussage: „Wenn ich denke, muss ich auch existieren, denn wie könnte ich denken, existierte ich nicht?“ Aber auch das, was nicht denkt, ist existent. Ich drehe den Satz um: „Ich bin, also denke ich!“ Denn Bewusstsein setzt Existenz voraus. Ohne Existenz gibt es auch kein Bewusstsein, nur existierende Lebewesen sind in der Lage, ein Bewusstsein zu entwickeln.

Existenz bedeutet nicht, dass sie auch wahrgenommen wird, denn das was ist, was existiert, kann nur von bewussten Existenzen wahrgenommen werden. Diese nehmen das wahr, was sie wahrzunehmen in der Lage sind. Ein Insekt kann z. B. ganz andere Farben wahrnehmen als ein Pferd. Und doch existieren sowohl die Farben, die die Biene sieht als auch die Farben, die das Pferd sieht. Ein Hund, ein Bär, ein Pferd, ein Affe, ein Mensch sehen nachts am Himmel eine weiße leuchtende Scheibe, denn der Mond existiert. Nur die Spezies Mensch weiß inzwischen, was es mit dieser leuchtenden Scheibe auf sich hat. Doch der Mond ist, was er ist, unabhängig davon, was Lebewesen von ihm wahrnehmen.

Das, was ist, ist wahr. Unabhängig von jeder Wahrnehmung, und damit von jedem Bewusstsein. Wahrheit existiert, egal, ob sie erkannt wird oder nicht. Die bewusste Spezies Mensch lernte im Laufe der Jahrhunderttausende immer mehr Teile der Wahrheit kennen, und immer mehr Erkenntnisse kamen sowohl in das individuelle als auch das kollektive Bewusstsein. Menschen sind eine wissbegierige intelligente Spezies, die sich beobachtend, neugierig und experimentierend mit sich und ihrer Umwelt auseinandersetzte. Fußend auf ihren Beobachtungen, Erfahrungen und Erkenntnissen entstanden erste Kunstwerke, Malereien, Skulpturen, Musikinstrumente. Das Leben wurde in dieser ersten Bewusstseinsphase gefeiert. Das Offensichtliche wurde angenommen und künstlerisch verarbeitet.

Doch dann kamen Missverständnisse auf, aus denen besonders der männliche Mensch fatale Schlüsse zog. Seit Entstehung des Patriarchats verwandelte sich der klare und annehmende Blick auf die Umwelt und die Wissbegierde allmählich in ein Streben, erworbenes Wissen für eigene Vorteile zu nutzen. Offensichtliche Tatsachen wurden missinterpretiert und fehl gedeutet. Frauen gaben nicht mehr das Leben, sie wurden zu Gefäßen des männlichen „Samen“. Das Patriarchat mit allen seinen Auswirkungen, Eigentum, Besitz, Verteidigung desselben, aber auch Ausbeutung der natürlichen Bodenschätze entwickelte sich. Am fatalsten wirkte sich die kollektive Geiselhaft der Frauen durch die Männer auf die weitere Entwicklung der Menschheit aus, die bis heute anhält.

Damit sich das Patriarchat erhalten konnte, brauchte es Ideologien. Es entstanden Hierarchien mit Herrschenden und Dienenden. Die dienenden Menschen (vornehmlich Frauen) wurden mit „Wissen“ gefüttert, damit sie ihre misslichen Verhältnisse ertrugen und gegen die Unterdrückung nicht aufbegehrten. Aus den politischen Ideologien wurden Theologien mit Erfindungen von Göttern, die die irdischen Verhältnisse widerspiegelten, bis am Ende nur noch ein einziger (männlicher) Gott übrig blieb, der allein aus dem Geist zeugte. Die offensichtlichen natürlichen Wahrheiten waren komplett auf den Kopf gestellt.

So wurde die im Menschen verankerte Suche nach Wahrheit und Erkenntnis immer mehr zu einer Sinnsuche degradiert. Erst im Patriarchat suchten die Menschen, ihres eigentlichen Lebenssinns beraubt, nach der allumfassenden und einzigen Wahrheit. Da sie keine fanden, sagten sie, es gäbe keine einzige Wahrheit, sondern viele, und jeder Mensch hätte seine eigene Wahrheit. Das ist aber ein Trugschluss. Viele verwechseln Wahrheit auch mit Gott oder Spiritualität. Dabei ist und bleibt sie nur eines: Das was ist.

Wahrheit im Patriarchat zu finden ist allerdings schwierig. Alles, was im Patriarchat geborene und aufgewachsene Menschen als Glaubenssätze, Überzeugungen, Gewissheiten etc. lernen und aufgeschwatzt bekommen, entpuppt sich später oft als Irrtum, Lüge, Propaganda. Dann kann es zu so genannten „Wahrheitskämpfen“ kommen, eine Wahrheit gegen die andere, und jede Partei behauptet von sich, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Dabei geht es hier nicht um Wahrheit, sondern um Ideologien, Glaubenssätze, Überzeugungen. Kommt tatsächlich einmal Wahrheit zum Vorschein, wird sie genau mit dem Totschlagargument, sie sei ja nur „gepachtet“, schnell von der patriarchalen Bildfläche gefegt. Wenn Wahrheit sich im Patriarchat zeigt, dann wollen viele sie nicht wahrhaben. Im Gegenteil, sie wird von den ideologisch verblendeten Menschen bekämpft bis aufs Blut. Weil sie so weh tut und uns schmerzlich zeigt, in welch ungesunder Gesellschaft wir in Wirklichkeit leben. Dass wir alles, was wir bisher glaubten und als richtig angesehen haben, falsch ist. Dass wir dabei sind, den Planeten zu zerstören. Dass wir wider unserer natürlichen Soziologie leben. Dass wir untereinander nicht mehr ehrlich und wahrhaftig kommunizieren können, weil wir Tonnen von rigiden Verhaltensmustern mit uns herum schleppen.

Dazu gehört auch die notorische Opfer-Täter-Umkehr. Weil wir Frauen seit Jahrtausenden gelernt haben, dass nicht die Verursacher unserer Unterdrückung, nämlich die Männer, zur Verantwortung zu ziehen sind, sondern die Frauen, die sich dagegen wehren, bestrafen wir genau diese. Dabei sind sie die Opfer. Wir haben allzu oft erlebt, dass dem Opfer die Mitschuld bis Hauptschuld angehängt und es bestraft wird, sogar mit dem Tod. Und wir erleben es heute noch. Der Begriff „Opfer“ ist ein Schimpfwort geworden, und dem Opfer wird unterstellt, eine Opferrolle einzunehmen, den Status also selbst zu wählen. Status bleibt aber Status, das ist keine Rolle. Das spiegelt sich auf allen Ebenen. Wir Frauen suchen immer die Schuld bei uns, auch wenn uns noch so großes Unrecht angetan wurde. Aber auch Frauen werden Verursacherinnen von Missbrauch innerhalb ihres eigenen Geschlechts, z. B. durch Mobbing. Zu leiden haben darunter diejenigen, die zu ihrer Zielscheibe werden. Das sind oft gerade die, die unbequeme Wahrheiten mitteilen. Die verzweifelten Reaktionen des Mobbingopfers werden von den Umgebenden falsch eingeschätzt, und am Ende wird das Opfer genau dafür bestraft.

Wenn wir uns allerdings aufmerksam auf die um uns herum aufpoppenden Wahrheiten einlassen, statt uns dagegen zu wehren und den Übermittlerinnen den Kopf abzuschlagen, und nicht mehr den patriarchalen Glaubenssätzen folgen, können wir eine Chance bekommen, die zerstörerische Entwicklung noch zu stoppen. Wenn wir uns auf die Wahrheit einlassen, uns informieren und dann gemeinsam eine Lösung suchen. Nur informiert können wir Verständnis für uns selbst und unsere Mitmenschinnen aufbringen. Informieren wir uns aber nicht, sondern wehren ab, werden alle Lösungsbemühungen immer wieder nur in patriarchalen Kämpfen enden. Weil wir es nicht anders gelernt haben. Und es ist noch ein weiter Weg

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