Kürzlich wurde mir von einer Mutter die Frage gestellt, warum Gewalt gegen Frauen so verbreitet ist und auch noch „institutionell“ gefördert bzw. dagegen so wenig getan wird. Auch wollte sie wissen, was dies mit Matrifokalität zu tun hat.
Dazu muss ich ein wenig weiter ausholen und sehr weit in die Menschheitsgeschichte zurück gehen.
Die Menschen in den heutigen Zivilisationen, im Gegensatz zu vielen verbliebenen indigenen Völkern, die es noch auf der Erde gibt, leben seit einigen tausend Jahren in einer Gesellschaftsform, die sich immer weiter von ihrer natürlichen sozialen Lebensweise entfernt. Die Gesellschaftsform heißt Patriarchat, was „Väterherrschaft“ bedeutet, und entstand vor ca. 8000 Jahren am Ende der Altsteinzeit in der Steppe, in Europa mit Beginn der Jungsteinzeit vor 7000 Jahren.
Die Lebensform, in der die Menschheit die längste Zeit ihrer Geschichte existierte, wird heute von den PatriarchatsforscherInnen und -kritikerInnen als matrifokal bezeichnet. Matrifokal bedeutet „Mütter im Zentrum“. Viele benutzen auch den Begriff „matriarchal“, doch ist dieser aus Sicht einiger Denkerinnen erstens überholt, weil er übersetzt als „Im Anfang die Mutter“ die tatsächliche Lebensweise der Sippen im Paläolithikum nur ungenau trifft, zweitens, weil er vom Mainstream als „Mütterherrschaft“, damit als Pendant zum Patriarchat mit umgekehrten Vorzeichen missgedeutet wird und weiterhin von einigen Feministinnen als politischer Kampfbegriff benutzt wird. Es geht in der Patriarchatsforschung aber nicht um Politik, sondern in erster Linie um Aufklärung und saubere und wissenschaftlich belegbare Begriffsdefinitionen.
Die paläolithische Sippe setzte sich aus blutsverwandten (konsanguinen) Menschen zusammen. Die Größe der Sippen ist mit ca. 70-100 Individuen nachgewiesen. In ihr lebten Mütter, Schwestern, Kinder, Großmütter, Tanten, Onkel und Brüder. Die biologischen Väter der Kinder lebten ihrerseits in ihrer eigenen Sippe und kümmerten sich, wie alle Individuen innerhalb der Sippe, um die Aufzucht der Kinder ihrer Schwestern und Mütter.
Wie kam es nun zur Änderung dieser friedlichen, sozialen und für alle Menschen beglückenden Gemeinschaftslebensform? Die Gründe für die Entstehung des Patriarchats sind vielschichtig. Sie fand schleichend statt mit der Domestizierung von zunächst Kleintieren wie Schafen und Ziegen, später Rindern und noch später Pferden. War die Tierhaltung ursprünglich ein reines Adoptieren und Aufziehen von mutterlosen Tierkindern innerhalb der matrifokalen Sippe, entwickelte sie sich im Patriarchat zur Nutztierhaltung und in letzter Konsequenz zur Tierzucht. War die biologische Vaterschaft bis dahin den Menschen unbekannt und somit auch völlig irrelevant, so entdeckten sie mit der Tierhaltung den Anteil und die Bedeutung der männlichen Tiere, also auch des Mannes, für den Fortpflanzungsprozess. Aus diesen offensichtlichen Tatsachen zogen die Männer den irrigen Schluss, dass sie allein es sind, die das Leben weiter geben und die Frauen und weiblichen Tiere lediglich das Gefäß ihrer „Samen“ darstellten. Biologisch gesehen ist das Spermium eher mit Pollen vergleichbar und nicht mit Samen, denn in Samen sind schon sämtliche Anlagen vorhanden, die der Keimling zum Wachsen und Leben braucht. Das trifft auf Pollen, somit auf das Spermium, nicht zu, wohl aber auf die Eizelle. Ihr gebührt also in Wirklichkeit der Status „Same“.
Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte war es den Menschen offensichtlich und auch unhinterfragt, dass das Leben aus den Frauen kam. Dies belegen tausende von altsteinzeitlichen Urmutterstatuetten, die bis zu 38000 Jahre alt sind (Update: Es gibt sogar Statuetten, die weitaus älter sind, die älteste wird auf 300 000 – 500 000 Jahre geschätzt (Quelle)). Der Irrtum der Männer basiert, wie Gabriele Uhlmann in ihrem Buch „Der Gott im 9. Monat“ sehr klar belegt, ganz offensichtlich auf einem Gebär- sowie Stillneid. Erst nach der Erkenntnis des Anteils des Mannes an der Fortpflanzung tauchten die ersten Phallusskulpturen als Fruchtbarkeitssymbole auf, die weiblichen Figurinen verschwanden nach und nach. Durch Naturkatastrophen bedingte Völkerwanderungen sorgten für Mangelnöte und Begegnungen von nomadisierenden, schon patriarchalisierten Menschen mit noch matrifokal lebenden. Mit dem Ackerbau, aber ganz besonders mit der Viehzucht gewann das Privateigentum immer mehr an Bedeutung im Gegensatz zum Gesamthandseigentum der hauptsächlich sammelnden und zusätzlich jagenden Sippengemeinschaften. Es kam zu aggressiven Auseinandersetzungen um Weide- und Ackerland. Das entstehende Patriarchat brauchte Privateigentum und Abgrenzungen. Mit Beginn des Bergbaus entstanden Hierarchien mit Herrschern an der Spitze, die weniger Privilegierte für sich arbeiten ließen. Der Kapitalismus mit all seinen kriegerischen Auseinandersetzungen war geboren. Gleichzeitig entstanden die ersten politischen Theologien, die den Zweck hatten, die irdischen Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren und die Bevölkerung dazu zu veranlassen, ihre misslichen Lagen als gottgewollt zu akzeptieren.
Doch nicht nur das Zusammenleben der Menschengruppen nahm Schaden, sondern ebenfalls die soziologische und zwischenmenschliche Struktur und die Beziehungen untereinander. Basierend auf ihrer irrigen Schlussfolgerung sorgten die Männer fortan dafür, sicherzustellen, dass die von ihnen ausgewählten Frauen auch „ihre“ Nachkommen gebaren. Das biologisch festgesetzte Recht der Frau auf ihre sexuelle Selbstbestimmung, die female choice, wurde damit immer mehr außer Kraft gesetzt. Das gipfelte zuletzt darin, dass ein Mann eine Frau oder mehrere allein für sich beanspruchte. (Anmerkung: Der Vergleich mit einer Herde Rehe, wo ein Platzhirsch alle Ricken allein begatten darf und diese das über sich ergehen lassen, ist ein Trugschluss. Auch hier sind es die Weibchen, die wählen. Sie paaren sich durchaus auch mit anderen Hirschen. Wie sehr die patriarchale Brille uns die Sicht auf die Natur verzerrt hat, soll hier nicht erläutert werden und ist ein anderes Thema.) Die daraus resultierende Lebensform veränderte sich von der matrifokalen und matrilokalen Sippe zur patrilokalen (patrilokal: Es wird dort gelebt, wo der Vater lebt) Kleinfamilie. Damit waren die Frauen isoliert und den Männern in jeder Hinsicht ausgeliefert. Mütter fanden keinen Rückhalt mehr in ihrer sanguinen Verwandtschaft, sondern waren auf Gedeih und Verderb der blutsfremden, jetzt „Familie“, des biologischen Vaters ausgesetzt. Dieses Modell des Zusammenlebens hat sich bis heute in seiner Grundstruktur nicht geändert und ist seitens der Theologie und Politik als Ehe institutionalisiert.
Damit das Modell Ehe und Kleinfamilie nicht in Frage gestellt wird, verbreitet das Patriarchat Propaganda in Form von Märchen rund um die Ehe und verklärt sie romantisch. Nur so ist es zu erklären, dass der Heiratswunsch bei jungen Frauen nach wie vor ungebrochen ist, ebenso wie der männliche Anspruch, „seine“ Frau inklusive der gezeugten Kinder gehörten jetzt ihm (dies ist den wenigsten übrigens wirklich bewusst, weder den Frauen noch den Männern). Auch die patriarchale Denke, Frauen hätten ihm zur Verfügung zu stehen bei der Inanspruchnahme seines Rechts auf Sex, hat sich in seinem Kopf eingenistet und zeigt sich deutlich in der Verharmlosung, Legitimierung und gesellschaftlich immer mehr akzeptierten Prostitution. Ist eine Ehe erst einmal geschlossen und wurden Kinder geboren, kann diese Entscheidung insbesondere für die Frau sehr gefährliche Konsequenzen haben. Im trostlosen Ehealltag, in der Patriarchatspropaganda nirgendwo erwähnt, zeigt sich immer deutlicher, welchen Belastungen und Defiziten die in ihr lebenden Menschen ausgesetzt sind. Die Frau realisiert, dass sie gefangen ist und mit ihren Kindern allein gelassen und überfordert, der Mann, dass die Versprechen, die das Patriarchat ihm mit der Eheschließung zugesagt hat, keineswegs eingehalten werden. Die Frau rebelliert, der Mann reagiert frustriert, dann aggressiv, die Gewalt ist nicht mehr weit. Psychologisch nennt man diesen Vorgang Eskalation. Das Eskalationspotential in der Kleinfamilie ist gewaltig. Es ist ein Wunder, dass es dennoch Ehen gibt, die einigermaßen friedlich ablaufen. Doch die Regel ist das bei Weitem nicht, im Gegenteil, diese Zusammenlebensform erzeugt immer Mängel, es gibt keine Kleinfamilien ohne Zwänge.
Der Grund, warum gegen diese Partnergewalt so wenig getan wird und warum sie sogar im Erstarken der Väterrechte gefördert wird, liegt in der widernatürlichen Gesellschaftsform Patriarchat. Das Patriarchat aber tut alles, um seinen Status zu erhalten, denn stellte es sich selbst in Frage, käme es zu Erkenntnissen, die zu seiner Abschaffung führten. Das verhindert es durch Tatsachenverdrehungen, Auf-den-Kopf-stellen, Verleugnen, Verschleiern, Unterwandern. Grundlegend ändern kann sich das erst, wenn sich die Menschen darüber bewusst werden, wie defizitär sie eigentlich leben, sich rückbesinnen auf das, was tatsächlich mal war (insofern: Ja, zurück in die Steinzeit!) und was unter einer menschenfreundlichen, krieg- und gewaltlosen friedlichen Gemeinschaft wirklich verstanden werden muss. Ganz gewiss nicht die glückliche Familie mit zwei Kindern im Einfamilienhaus, die es nicht gibt.