Problematische Kommunikation: Patriarchale Wurzeln

Vor zwei Jahren veröffentlichte ich meine ersten Blogartikel „Begegnung auf Augenhöhe“ und „Problematische Verhaltensweisen und Überzeugungen„. Heute resümiere ich, dass sich bisher nichts so sehr bewahrheitet hat wie die Erkenntnisse in diesen beiden Artikeln, und was sie mit dem Patriarchat zu tun haben.

Eine Bemerkung vorab: Meine Artikel basieren auf psychologischen Erkenntnissen, die ich durch meine eigenen Erfahrungen und Reflexionen bestätigt sehe. Es handelt sich hierbei tatsächlich um geltende Naturgesetze. Dass psychologische Erkenntnisse häufig als esoterisch und unwissenschaftlich abgetan und deshalb nicht ernst genommen, belächelt und ignoriert werden, liegt in der Natur der Sache: Es ist schwierig, die menschliche Psyche zu erforschen, weil es lange Zeit nichts zu messen gab, und die Psychologie hat sich in ihrer Entwicklungsgeschichte nicht gerade mit Ruhm bekleckert, wurden Menschen doch auf beschämendste Weise ihrer Würde beraubt, was ganz besonders Frauen betraf. Ihnen wurde zu Anfang die geistige Unterlegenheit gegenüber dem Mann diagnostiziert. Auch das ist selbstverständlich dem Patriarchat geschuldet. Im Grunde kann ein Mensch nur anfangen, sich selbst zu erforschen und die eigenen angelernten Überzeugungsmuster immer wieder an der Realität zu messen und zu überprüfen, und das gilt für Männer wie Frauen. Wer sich darin übt und die eigenen Sinne schärft, wird erkennen, dass vieles, was als wahr und gültig angenommen wurde und wird, korrigiert werden muss.

Mit dieser lange entwickelten Einstellung und offenen Augen sah ich mir ganz genau an, was in dieser Welt gerade passiert und auch passiert ist, und besonders, welche Rolle ich selbst darin spiele und spielte (im wahrsten Sinne des Wortes). Ich musste erkennen, dass ich und alle Menschen dieser Erde und dieser Zeit patriarchalisch sozialisiert und konditioniert sind. Nun, das ist wahrlich nichts neues, es gibt genügend Literatur zur Soziologie des Patriarchats, doch was bedeutet das? Die negativen Auswirkungen betreffen Männer wie Frauen, doch sind die Frauen als die unterdrückte Hälfte der Menschheit wesentlich stärker und prekärer davon betroffen. Selbst diese Tatsache musste ich mir erst einmal bewusst machen, denn ich habe die meiste Zeit meines Lebens geglaubt, ich sei voll emanzipiert und das Patriarchat sei abgeschafft oder löse sich gerade auf, wie auch manche Frauen, die derzeit ein Postpatriarchat postulieren, glauben. Dabei ist das Gegenteil der Fall, wir stecken noch bis zum Hals darin. Was wir tun können, dies zu ändern, ist u. a. die Menschheitsgeschichte neu zu reflektieren, was derzeit einige wenige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in Angriff nehmen, bisher jedoch von der herrschenden Lehrmeinung ignoriert bis diffamiert. Doch damit bringen sie lange geglaubte Irrtümer ans Licht, z. B. die (ideologisch geschürte und irrige) Annahme, es hätte in der Religion immer schon einen Urvater gegeben. Das Gegenteil ist der Fall, die längste Zeit hat die Menschheit die Urmutter verehrt, was archäologisch belegt ist. Auch ist das Dogma widerlegt, es hätte schon immer die heutige Kernfamilie gegeben, also Vater, Mutter, Kind, und dass diese Paarungsfamilie schon in Urzeiten für sich selbst gesorgt und gewirtschaftet hätte, der Mann als Beschützer und Ernährer der in der Höhle hausenden und sich höchstens zum Sammeln nach draussen begebenden Frau. Doch ist dieses Modell weitaus jüngeren Datums und ebenfalls im Patriarchat verwurzelt. Es wird heute als die Norm gelebt als Institution Ehe und ist die staatlich anerkannte und geförderte Lebensform. Dabei ist sie seit Jahrtausenden eine unnatürliche und aufgezwungene Lebensweise, die zu Lasten der Frauen ging. Das Bild des steinzeitlichen Mannes, der seine Frau als Beute an den Haaren in die Höhle schleppt, ist überholt und hat sich als falsch und ideologisch heraus gestellt. Die Menschen lebten friedlich in großen Gruppen mit um die 100 Individuen, es gab keine Hierarchie (also „Herrschaft“, woraus folgt, dass es auch kein „Matriarchat“ gab, also eine „Mütterherrschaft“ als Pendant zum Patriarchat, was „Väterherrschaft“ bedeutet, sondern eine egalitäre matrifokale Gesellschaftsform). Die Fakten dazu sind bestens erklärt bei z. B. Gabriele Uhlmann oder Gerhard Bott, auf die ich hier in diesem Artikel nicht weiter eingehen will, da ich sie mir selbst erst kürzlich angeeignet habe und mir noch längst nicht alle bekannt sind. Das würde den Rahmen meines Posts sprengen. Auch Stephanie Gogolin hat zu dem Thema Matrifokalität gute und klare Artikel geschrieben, weshalb ich sie zum Einstieg bestens empfehlen kann.

Was haben nun die problematischen Verhaltensweisen, die ich immer wieder unter Menschen beobachte, und zwar nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen Frauen untereinander, mit der Soziologie des Patriarchats zu tun? Meine Beobachtung war: Ein liebevoller Umgang von Menschen untereinander ist selten gegeben. Statt dessen sind deutlich sichtbar: Machtstreben, Bedürftigkeit, Verantwortungslosigkeit sich selbst und anderen gegenüber, gepaart mit verletzten Selbstwertgefühlen und Minderwertigkeitskomplexen; das geht bis hin zur psychischen und verbalen Gewalt. Empathie und Mitgefühl sind mit der Lupe zu suchen und selten zu finden. Diese Beobachtung kann jede Frau und jeder Mann machen, doch dazu ist es notwendig, genau hinzusehen (bzw. überhaupt hinzusehen, denn das tun einige selbst bei offensichtlichsten Gegebenheiten nicht).

Erika J. Chopich und Margaret Paul schreiben in ihrem Selbsthilfebuch „Aussöhnung mit dem inneren Kind“ (Ullstein, 1990, 24. Auflage 2007) im Vorwort:

„Unsere Gesellschaft befindet sich in einer tiefen spirituellen Krise, denn wir haben vor Tausenden von Jahren, noch bevor Jesus Christus auf die Welt kam, den falschen Weg eingeschlagen: Wir haben den Kontakt zu unseren Herzen verloren.“

Damit bringen sie das Elend, das in dieser Welt „herrscht“ (wortwörtlich), auf den Punkt, und es kann ergänzt werden: Das Patriarchat ist die Ursache allen Übels auf diesem Planeten seit der neolithischen (jungsteinzeitlichen) Revolution (der Wikipedia-Artikel bedarf dringender Überarbeitung, denn er ist, wie vieles zu diesem Thema, patriarchal kontaminiert). Um das Übel also abzuschaffen, müssen die Menschen wieder lernen, „in Kontakt mit ihren Herzen“ zu gehen. Das beinhaltet nichts anderes, als sich selbst, der angelernten Überzeugungen und Verhaltensweisen, Annahmen und Tabus bewusst zu werden. Nur das, was bewusst ist, kann gesehen und damit auch geändert werden. Wer den Weg in sein Inneres geht, und nur dorthin führt eine wirkliche Veränderung, nicht ins Außen, lernt sich selbst kennen, spüren, fühlen, und erlangt auf diesem Weg die Fähigkeit, andere zu spüren, ein Gefühl und Mitgefühl für sie zu entwickeln.

Die Realität sieht indes anders aus. Die meisten Menschen machen sich nicht die Mühe und sehen auch keinen Anlass, sich selbst zu hinterfragen, sondern werten und beurteilen andere Menschen aufgrund ihrer anerzogenen (unbewussten) Verhaltensweisen und Überzeugungen. Auch ist es üblich geworden, nicht von sich selbst zu reden (dabei kann ein Mensch ja nur von sich, also von der eigenen Perspektive aus, reden), sondern lieber über andere, und auch nicht mit ihnen. Es handelt übergriffig, wer über andere urteilt, die Aussagen anderer be- oder abwertet, im eigenen Sinne interpretiert, ganz genau zu wissen glaubt, wie andere ticken, funktionieren, was sie denken, was bei ihnen los ist und sie aufgrund dieser Annahmen mit einer psychologischen Diagnose kategorisieren. Daraus resultieren nicht selten entsprechende ungefragte und ungebetene Ratschläge. Übergriffe sind eine Eingemeindung anderer Personen in die eigenen Ansichten, Überzeugungen, Standpunkte und Annahmen, kurz: Eine Kolonialisierung.

In welchem System hat Kolonialisierung ihren Ursprung? Im Patriarchat.

Doch wie wollen wir das Patriarchat überwinden, wenn wir selbst ständig dabei sind, uns der ungesunden Praktiken, die zu dem bestehenden (unnatürlichen) gesellschaftlichen System geführt haben, auch im Zwischenmenschlichen zu bedienen? Zeigt es nicht einfach nur deutlich, wie tief wir alle noch im Patriarchat stecken, und zwar unbewusst, und dass die einzige Möglichkeit, sich die Dinge bewusst zu machen und damit zu ändern, das Sich-Hinterfragen ist? Wo wollen wir anfangen, dieses Gesellschaftssystem, das uns allen so massiv schadet, abzuschaffen, wenn wir nicht bei uns selbst anfangen? Ja, bei uns selbst, auch bei dir, der/die du jetzt diese Zeilen liest!

Um Missverständnissen vorzubeugen: Sich die o. g. Verhaltensweisen abzugewöhnen beinhaltet NICHT, keine Kritik mehr üben zu dürfen oder zu können. Kritik an den ideologischen Dogmen der WissenschaftlerInnen, der Kirche, der Politik etc. ist selbstverständlich notwendig und richtig. Ebenso beinhaltet „auf Augenhöhe“ NICHT, dass zwei Menschen denselben Wissensstand haben, oder sogar den selben Erfahrungshintergrund. Jeder Mensch macht eigene Erfahrungen und hat unterschiedliches Wissen und darauf basierend einen eigenen Erkenntnisstand, so dass es in diesen Punkten niemals eine Übereinstimmung geben kann. Wir sind unterschiedlich in vielen Dingen. Doch das Begegnen auf Augenhöhe geschieht zutiefst in dem Wissen und der Überzeugung, dass wir Menschen und auch alle Lebewesen auf diesem Planeten in all ihrer Vielfalt eins sind mit der Natur. Wollen wir die fortschreitende Zerstörung der Natur, des Planeten und all der Spezies darauf stoppen, müssen wir lernen, unsere Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl, die uns im Alltag allzuoft abhanden gekommen ist, zu reaktivieren. Und zwar dringend, bevor es zu spät ist.

Wenn es das nicht schon ist.

Moral ist das Gegenteil von Würde

In den heutigen Gesellschaften und Lebensgemeinschaften wird nach moralischen Werten gemessen, geurteilt oder bewertet. Moral definiert das Handeln nach bestimmten Konventionen und Regeln, die in einer Gesellschaft festgelegt und zum einen per Gesetz definiert sind, zum anderen über kulturelle Übereinstimmungen gelten. Alle Lebewesen einer Gesellschaft werden deshalb moralischen Werten unterworfen, nach denen sie sich zu richten haben und dies erfahrungsgemäß mehr oder weniger tun. Tun sie es nicht, entscheidet eine eigens dafür eingerichtete moralische und rechtliche Instanz darüber, ob und wie schwer sie dafür zu verurteilen sind. Wobei Recht und Moral nicht immer übereinstimmen müssen.

Doch Würde misst sich nicht an äußeren Maßstäben. Für Würde gibt es nur einen Maßstab, und der liegt im Inneren eines jeden Menschen und jeden Lebewesens. Würde ist der Maßstab. Jedes Lebewesen hat Würde inne. Sie ist nicht definierbar, weil sie ist was sie ist, aber spür- und fühlbar. In besonderer Achtsamkeit dem Leben gegenüber und indem es in vollem Ernst und in seiner Ganzheit angenommen wird, kommt Würde am deutlichsten zum Ausdruck. Dazu gehören alle Facetten des Lebens, Stärken, Schwächen, Begabungen, Krankheit, Geburt und Tod.

In dieser Gesellschaft wird aber die Moral mit Würde gern verwechselt, dabei schließen sie sich gegenseitig aus. Dies mag revolutionär klingen, wird heutzutage doch geglaubt, Würde und Moral seien ein und dasselbe oder Ähnliches oder haben direkt miteinander zu tun. Es wird geglaubt, die Moral müsse dafür sorgen, dass die Würde garantiert sei. Gäbe es keine Moral, so wird argumentiert, wäre die Gesellschaft anarchisch und somit würdelos. Doch das ist ein Irrtum: Die Würde ist die alleinige Instanz, die Anarchie im Sinne von lebenszerstörendem Chaos verhindert. Sie ist nicht umsonst in Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland verankert. Doch unabhängig davon, ob in einem Gesetzestext der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht oder nicht: Würde ist uneinforderbar, uneinklagbar und unabsprechbar, denn sie steht automatisch allen Lebewesen zu. Sie ist das, was das lebende Wesen ausmacht, ja, was überhaupt erst das Alleinstellungsmerkmal all dessen ist, was lebt. Der Satz im Grundgesetz ist somit keine Weisung oder Ermächtigung oder Forderung: Er ist schlicht eine Feststellung. Und er steht da, damit wir uns immer wieder daran erinnern.

Kann eine Gesellschaft ohne Moral existieren, wenn sie sich ausschließlich auf die Würde ihrer Individuen stützen würde? Kritiker halten dagegen, ohne Moral gäbe es kein friedliches Zusammenleben, weil alle nur auf den eigenen Vorteil bedacht wären und somit die anderen in ihrem Sinne benutzen oder ausnutzen würden. Fehlende moralische Konventionen würden als Freifahrtschein missverstanden, sich zu „verwirklichen“ und egoistisch die eigenen Interessen auszuleben ohne Rücksicht auf andere. Doch Würde ist kein Freifahrtschein. Menschen, die in Würde handeln, brauchen keine moralischen Regeln, die ihnen sagen, wie sie so zu handeln haben, dass sie anderen nicht schaden. Sie wissen es automatisch, denn die Würde definiert das Sein ohne Bewertungen von außen. Wird das Leben nicht geachtet, wird die Würde verletzt.

Im patriarchalen und kapitalistischen System jedoch ist die Würde der Individuen in höchstem Maße gefährdet und wird tagtäglich auf allen Ebenen des Zusammenlebens verletzt. Im Kapitalismus geht es nicht um Menschen, sondern um Gewinnmaximierung, Marktoptimierung, Warenherstellung, Konsum, Kapitalanhäufung und das ewige Wirtschaftswachstum. Nun wird auch klar, warum die Moral in so einem System gebraucht wird: Weil die Menschen ihrer Würde beraubt werden, und zwar so sehr, dass sie sich ihrer gar nicht mehr bewusst sind. Es fehlt ihnen also der innere Halt, der innere Maßstab, als Mensch in dieser Gesellschaft zu existieren. Sie brauchen statt dessen den Halt der äußeren moralischen Maßstäbe. Es ist logisch: Wo es nur um Geld und Materialismus geht, geht es nicht um die Menschen und folglich auch nicht um ihre Würde.

Das Patriarchat indes sorgt seit tausenden Jahren dafür, dass die eine Hälfte der Menschheit die andere unterdrückt, ausbeutet, benachteiligt, benutzt, zum großen Teil inzwischen unbewusst (und von der Finanzlobby sogar gefördert), da wir alle in diese Welt hineingeboren wurden und somit mit den Konventionen aufgewachsen sind, die wir unhinterfragt verinnerlicht haben. Besonders deutlich wird das bei dem Thema Prostitution. Gerade an der derzeitigen unsäglichen Debatte um die Liberalisierung der Prostitution wird sehr deutlich, dass es mit der Würde in dieser Gesellschaft, in diesem Land nicht sehr weit her ist. Ganz egal, wie sehr die BefürworterInnen behaupten, die Frauen machten ihre „Arbeit“ selbstbestimmt und freiwillig: Sie machen es für Geld. Sie dienen dem Kapitalismus und dem Patriarchat, denn ohne gäbe es die Prostitution gar nicht. Prostitution hat mit Würde nicht das Geringste zu tun. Ich mag das hier nicht weiter ausführen, denn es ist alles bereits gesagt worden dazu.

Mit einem Theologen habe ich letztens darüber diskutiert, inwiefern Werte und Bewertungen im Zwischenmenschlichen wichtig sind. Er hielt es für sehr wichtig, meinte, der Mensch solle sogar sich und andere bewerten und beurteilen, aber dennoch stolz darauf sein was er sei. Dazu sage ich: Stolz ist auch ein Begriff, mit dem Würde gern verwechselt wird, doch er ist eng und beschränkt durch die Anhaftung an moralische Werte. Bewerten und Urteilen setzt immter einen Maßstab voraus. Ist Würde der Maßstab, erübrigt sich ein Bewerten.

Es gibt keinen Wert außer Würde. Es reicht zu sein.

Bewusstsein und Wachheit

Jemand bescheinigte mir letztens, dass zwischen mir und ihm die Augenhöhe nicht gewährleistet sei, weil ich ihm auf bestimmten Themengebieten einen anderen Status als meinen eigenen zugeschrieben habe, in diesem Fall schlafend, während ich mich selbst dort als wach erlebe.

Ja, es stimmt. Die Augenhöhe ist in dem Fall nicht gegeben. Ich habe gelernt, dass es manchmal so ist, dass Augenhöhe dort nicht möglich ist, wo der Bewusstseinsstand zweier Menschen auf bestimmten Gebieten unterschiedlich ist. Das ist aber gar keine Wertung. Schlafend bedeutet ja nichts schlechtes, es bedeutet nur, bestimmte Dinge noch gar nicht sehen zu können, weil man eben schläft. Schlafen ist auch notwendig. Ohne den Schlaf kann sich ein Mensch nicht erholen, kann nicht träumen, kann keine Kraft schöpfen für die Zeit, in der er aufgewacht ist.

Eine Metapher: Ein Apfel ist auch nicht sofort nach der Bestäubung reif, er muss erst wachsen und Farbe bekommen und Fruchtfleisch ansetzen und Süße entwickeln. Wenn er dann reif ist, fällt er ganz von allein vom Baum. Vielleicht auch, wenn jemand den Baum schüttelt, aber nur, wenn der Apfel reif genug ist.

Jemand, der noch schläft, wird ganz von allein aufwachen. Vielleicht auch, wenn ihn jemand wachrüttelt, aber nur, wenn er wirklich ausgeschlafen ist. Sobald er aufgewacht ist auf einem bestimmten Gebiet, wird ihm dies sofort bewusst. Ein Schlafender ist sich seines Zustandes nicht bewusst. Diesen Moment des Aufwachens kennt jeder, der mal ein so genanntes Aha-Erlebnis hatte, dem vom einem auf den anderen Augenblick plötzlich eine Sache klar wurde. Das ist völlig unspektakulär, aber genau so funktioniert es mit dem Wach- und Bewusstwerden.

Nun hat sich aber eine Sache geändert: Schlafende, unbewusste Menschen können wache nicht erkennen. Aber umgekehrt ist das sehr wohl der Fall. Jemand, dem eine Sache bewusst geworden ist, nimmt unweigerlich einen neuen Standpunkt ein, eine neue Sicht der Dinge. Er hat mehr Weitsicht gewonnen und kann nun Dinge sehen, die er vorher nicht sah und die andere immer noch nicht sehen können bis zu dem Zeitpunkt, an dem auch sie aufwachen.

Leider ist es oft so, dass die Menschen, denen etwas bewusst geworden ist, von jenen, die noch unbewusst sind, dafür diffamiert werden. Bewusste Menschen können die unbewussten durchschauen. Das spüren sie und es ist ihnen unangenehm, weil ihnen dadurch Spiegel vorgehalten werden. Sie können und wollen aber (noch) nicht ihr eigenes Spiegelbild ansehen. Sie wissen auch nicht, dass bewusste Menschen ihnen nur ihr eigenes Verhalten oder ihren Zustand spiegeln, sie wissen nicht, dass sie nur ihr eigenes Spiegelbild betrachten. Oft ist dieser Anblick für sie schwer zu ertragen, denn es ist der Teil von sich, den sie an sich selbst verachten und verurteilen. Deshalb weisen sie es weit von sich und projizieren diesen Anteil, dieses Defizit, auf die Spiegel um sich herum. Es ist also für bewusste Menschen oft sehr unschön, unbewussten Menschen ihre eigene Unbewusstheit, ihr eigenes Schlafen, zu spiegeln, weil sie sehr oft heftigen Abwehrreaktionen ausgesetzt werden. Nur selten reagieren Menschen mit Innehalten, Einkehr und Einsicht und werden so selbst zu bewussten Menschen.

Ein konkretes Beispiel dazu: Jahrelang war ich Mitglied einer therapeutisch geleiteten Frauengruppe. Durch diese wurde ich immer bewusster, erkannte ich immer mehr mich selbst, konnte meine angelernten Überzeugungen erkennen, hinterfragen und schließlich ablegen. Ich konnte Dinge aktivieren und reaktivieren, die ich mir niemals hätte träumen lassen.

Den anderen Frauen ging es sicher in ihren Bereichen auch so. Nun kam aber die Zeit, in der ich spürte, dass ich die Gruppe nicht mehr brauchte. Ich merkte, nun habe ich Laufen gelernt und ich kann jetzt allein gehen. Als ich so darüber nachdachte, tauchte vor meinem inneren Auge ein Bild, eine Art Vision auf. Ich sah mich und die anderen Frauen in der Runde auf einer grünen Wiese, doch jede von uns saß in einem Käfig. Bei der einen war die Tür einen Spalt offen, bei der anderen war sie noch fest zu, wieder eine andere rüttelte an der Tür, und bei einer war die Tür weit offen, aber sie saß noch drin. Nur ich war schon aus dem Käfig herausgekommen und stand neben ihm. Ich sah noch einmal in die Runde und wendete mich dann ab, dem weiten Horizont entgegen.

Dieses Bild war nichts anderes als eine Metapher für den Ist-Zustand der Gruppe, bzw. meinen eigenen Zustand innerhalb der Gruppe. Ich beschrieb das Bild an einem Gruppenabend zusammen mit meiner Erklärung, nun aufhören zu wollen.

Die Reaktionen waren heftig, sehr heftig zum Teil, und ich hatte nicht mit ihnen gerechnet. Der Hauptvorwurf, den ich mir anhören musste, war der, wie ich so vermessen sein könne, sie in Käfige zu stecken. Eine bescheinigte mir, wie arrogant und überheblich ich doch sei und wie anmaßend, die ich doch selber im Käfig säße, so etwas zu behaupten. Für mich war das der letzte Abend in dieser Gruppe gewesen, ich ging nie wieder hin.

Später fragte ich mich, ob es richtig war, meine Vision zu erzählen oder ob ich sie lieber für mich behalten hätte. Es hätte für mich sicher ein angenehmeres Ende bedeutet. Doch heute denke ich, es war gut, dass ich sie erzählte, denn jede hatte nun die Chance, sich mit diesem Bild auseinander zu setzen. Hätte ich es nicht geschildert, hätten die anderen Frauen von ihrem Zustand weniger gewusst. Denn Fakt war: Nicht ich hatte die Frauen in die Käfige gesteckt, sie saßen schon drin! Ich beschrieb einfach nur, was ich sah. Dafür, dass die anderen in ihren Käfigen saßen, waren sie selbst verantwortlich.

Ich selbst weiß heute, dass ich, wenn das Leben mir übel mitspielt, gern wieder freiwillig in meinen Käfig setze, um mich zu schützen. Doch wenn die Großwetterlage sich gebessert hat, komme ich auch wieder hervor gekrochen ;-).

Wer ist hier dick?

Nachdem vor einigen Tagen das Hashtag #waagnis über Twitter hallte und zahlreiche Blogartikel nach sich zog, ich mir den einen oder anderen durchgelesen habe und bei einem auch kommentierte (Antje Schrupp), muss ich nun doch noch meinen eigenen Senf zu diesem Thema dazu geben, denn ich bin betroffen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Vorerst: Mein Gewicht schwankte im Laufe meines Lebens wie ein Wetterbarometer. Ich war mir sogar mal nicht zu müßig, meine Gewichtsschwankungen seit meinem 18. Lebensjahr grafisch festzuhalten:

Gewichtskurve

(Über)gewichtige werden in unserer Gesellschaft gern als krank und defizitär abgestempelt. Sie fallen aus der „Norm“, und schon kommen Normgläubige daher und kategorisieren. Dazu gehören auch solche Menschen, die etwas moderatere Schubladen aufmachen, aber sie machen dennoch Schubladen auf. Ihr Fatbashing tritt dann in Worten wie „medizinisch übergewichtig“ oder „gesünderes Leben“ oder „aus dem Gleichgewicht geraten“ in Erscheinung.

Dabei zeigen Menschen, die aus der „Norm fallen“ („Norm“ in Anführungszeichen, weil es keine definierte Norm gibt, das ist ausschließlich eine Auslegungssache, und „fallen“ spricht auch für sich), lediglich, dass sie anders sind. Anders ist aber nicht gleichbedeutend mit schlechter oder defizitärer oder kranker oder verantwortungsloser. Überhaupt, Verantwortung. Gern wird an das Verantwortungsgefühl der „Aus-der-Norm-Fallenden“ appelliert. Selbst wer es einmal geschafft hat, von „außerhalb der Norm“ wieder „in die Norm“ zu kommen, stimmt freudig in dieses Lied mit ein: Ist er doch von einem Saulus zum Paulus mutiert, hat seine Verantwortung wahrgenommen und kann sich jetzt entspannt zurücklehnen, denn er ist der bessere Mensch.

Fragt sich nur, für wie lange. Es gibt keine Garantie dafür, dass ein Mensch „in der Norm“ bleibt. Er kann sich aus dieser auch ganz schnell wieder entfernen, und die Wahrscheinlichkeit dafür ist sogar ziemlich hoch, wie Studien zeigen. Dass ehemals (Über)gewichtige nach einer Phase des Schlankseins (und „gesunden Lebens“) wieder rückfällig werden, ist eher die Regel als die Ausnahme. Man sehe sich meine Gewichtskurve an. Es gab Zeiten, in denen ich schlank war. Aber sie dauerten nie lange, und meistens wurde ich von meinen guten Vorsätzen, der „Norm“ zu entsprechen und „gesünder“ zu leben, durch äußere Schicksalsschläge wieder abgebracht, ich sage heute eingeholt. Zu nennen seien Mobbing im Job, Tod eines nahen Angehörigen, Jobverlust, Arbeitslosigkeit, Trennung und Scheidung, Verlust des Zuhauses. Aber auch weniger einschneidende Lebensereignisse können einen Menschen davon abbringen, seine ganze Kraft und sein ganzes Streben darein zu setzen, so zu agieren oder zu sein, wie es andere für einen als richtig erachten (zu den „anderen“ gehören auch Ärzte, Lehrer, Psychotherapeuten).

Die Gesellschaft geht mit ihren Mitmenschen ausgesprochen unmenschlich um, in dem sie ihre eigenen Defizite verdrängt und auf die sich anbietenden Menschen (Alkoholiker, (Über)gewichtige, Hartz-IV-Bezieher etc.) projiziert. Anstatt an ihren eigenen Missständen anzusetzen, drischt sie auf die Menschen ein, die Opfer ihrer Missstände geworden sind. Klar, es wird gern an das Verantwortungsbewusstsein der Menschen appelliert. Es ist ja auch völlig richtig: Ein jeder fange bei sich selbst an. Aber: Es gibt Missstände, die liegen nun mal nicht in der Verantwortung des Einzelnen. Auch wenn es dem Menschen bewusst ist, dass übermäßiger Fleischkonsum schlecht für die Umwelt ist und er selbst anfangen kann, diesen einzuschränken, so frage man sich doch: Warum ist das denn so? Warum hat die Werbung uns jahrzehntelang eingetrichtert, Fleisch sei ein Stück Lebenskraft? Ich bin als Kind in diesem Glauben aufgewachsen. Und nun versuche man mal, die in der Kindheit verinnerlichten Überzeugungen über den Haufen zu werfen. Das geht zwar, aber dazu ist viel Zeit, Reflektion und Kraft nötig. Kraft, die nicht immer unbedingt da ist. Besonders dann nicht, wenn von Mitmenschen keinerlei Unterstützung zu erwarten ist.

Was nützt es mir, mir vorzustellen, von nichtmal einer Hand voll Reis überleben zu müssen? Gar nichts. Ich lebe in einer Gesellschaft, in der diese Situation nicht gegeben ist. Dennoch haben die Menschen in den Regionen dieser Erde, für die das Realität ist, mein ganzes Mitgefühl. Ich kann auch was für sie tun, spenden etc. Aber muss ich mir deswegen von irgend welchen Menschen, die nicht ansatzweise wissen, wovon sie reden, vorwerfen lassen, ich sei verantwortungslos, weil (über)gewichtig? Ich bin es ziemlich leid, mir von anderen meine Lebensumstände erklärt und be(ver)urteilt zu bekommen, weil ich dummerweise in einem der reichsten Länder der Erde geboren und aufgewachsen bin statt in Bangladesh. Mit diesen subtilen „Angesichts des Hungers in dieser Welt“-Keulen auf jene einzudreschen, die nicht der perfiden Norm entsprechen und nicht „maßhalten“ können, ist genau das, was uns immer wieder vorgeworfen wird: Verantwortungsloses und unmenschliches Handeln. Das ist die wahre Maßlosigkeit, die auf diesem Globus ihr Unwesen treibt.

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So. Ich habe fertig.

Ne, doch nicht ganz: Sorry für das generische Maskulinum. Auch hier bin ich gerade wieder mal von der Macht der Gewohnheit überwältigt worden.

Und noch was: Ich bin als Kind in den Zaubertrank gefallen.

Update: Inwzischen bin ich dauerhaft meine Kilos los und habe Normalgewicht.

Das Gute im Menschen

Eigentlich glaube ich ja daran. Ich glaube, dass jeder Mensch im Grunde seines Herzens Gutes tun will, seinen Mitmenschen nur das beste wünscht und bei der Verwirklichung seiner Träume die besten Absichten hegt.

Ich erlebe es aber gerade wieder anders. Da baue ich vor ein paar Wochen einen Unfall, mitten in der Nacht beim Fahrspurwechsel, weil ich dachte, ich sei allein auf weiter Flur, dabei fuhr schräg hinter mir noch ein Fahrzeug. Und krach. Bagatellschaden, noch nicht mal eine Beule, nur ein paar schwarze Kratzer vom dem wie es den Anschein hatte nigelnagelneuen Mercedes. Ärgerlich sowas, ich hatte nicht aufgepasst und war natürlich Schuld. Dennoch habe ich die Polizei gerufen, musste mir deshalb von dieser einen dummen Spruch anhören („Und deshalb rufen Sie die Polizei?“ – Ey, muss ich mich etwa dafür rechtfertigen, oder was?). Meinem Unfallgegner war das sichtlich unangenehm. Dennoch war er mir gegenüber ausgesprochen höflich, wir tauschten Kontaktdaten aus, ich übergab meine Versicherungskarte, und damit war es erstmal erledigt.

Heute, genau heute, bin ich froh, dass ich die Polizei gerufen habe. So ist der Unfall nämlich aktenkundig geworden. Mein höflicher Unfallgegner hat meiner Versicherung gegenüber einen Schaden von 6000 € geltend gemacht. Die beauftragte daraufhin einen Gutachter, der heute intensiv mein Auto mit den paar Kratzern unter die Lupe nahm und mir dabei Haarsträubendes erzählte:

Der Mercedes war keineswegs nagelneu, sondern wies schon einen kaschierten Heckschaden auf. Er hatte damals ein rotes Nummernschild, angeblich gerade zugelassen für einen Händler. Inzwischen ist er wieder abgemeldet.

Ich soll angeblich die gesamte linke Seite des Mercedes geschrammt und ihn dabei noch gegen den Kantstein gedrückt haben. Und warum habe ich ihn eigentlich übersehen? Angeblich hielt er schon an der Kreuzung vorher neben mir an der Ampel, doch er ist mir nicht aufgefallen. Meinem Beifahrer auch nicht. Kann es sein, dass er gar nicht von dort kam?

Mein höflicher Unfallgegner ist Autohändler und arbeitet mit seinen beiden Brüdern zusammen, die diese Masche abziehen: Unfall bewusst provozieren und Versicherungen abzocken. Seine Freundin fungiert hierbei als Halterin der „neu“ zugelassenen Luxuskarossen, die in Wirklichkeit nur Crashkisten sind.

Tja, das Gute im Menschen hängt bei manchen eben sehr am Geld, und um an dieses zu kommen, ist jedes Mittel recht. Sich selbst der Nächste sein, aber nicht im Sinne von Selbstreflexion, sondern im Sinne von Selbstbereicherung auf Kosten anderer.

Kriminelle eben, auch wenn sie noch so höflich sind. Das Böse wäre nicht das Böse, wenn es nicht als das Gute verkleidet in Erscheinung träte.

Problematische Verhaltensweisen und Überzeugungen

Beziehungen auf Augenhöhe können gelingen, wenn sich die beteiligten Menschen bestimmte Dinge bewusst machen, die im zwischenmenschlichen kommunikativen Geschehen passieren können. Dazu gehören Verhaltensweisen, die problematisch sind und Beziehungen schwer belasten können. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie auf unbewusster Ebene ablaufen. Konkret handelt es sich um stereotype Überzeugungen und rigide angelernte Verhaltensmuster.

Hier nun die für mich auffälligsten:

Gefühle kleinreden
Spricht jemand über seine Gefühle, dann ist die unangemessenste Reaktion darauf, sie klein zu reden, abzuwerten oder zu versuchen, sie ihm ausreden zu wollen. Jemand, der sich einem anderen Menschen anvertraut und ihm erzählt, wie es ihm gerade wirklich geht, offenbart damit sein Innerstes. Versucht der Gesprächspartner, ihm diese Gefühle auszureden oder sie nicht zur Kenntnis zu nehmen, fühlt sich der Mensch nicht ernst genommen, nicht wahr genommen, abgewertet, verletzt in seiner Offenbarung und beschämt.

Die angemessene Reaktion ist also, den erzählenden Menschen ernst zu nehmen, ihm zuzuhören und seine Worte ohne Ratschläge einfach zur Kenntnis zu nehmen. Ist man selbst sehr betroffen davon, kann man dies sagen und in sich hinein hören, was einen selbst daran so betroffen macht. Meistens ist genau dies aber auch der Grund, warum andere Menschen ihre Gefühle nicht sagen dürfen. Weil es berühren kann. Im schlimmsten Fall unangenehm.

Nicht zuhören können
Wirklich zuhören können viele Menschen nicht. Zuhören bedeutet, sich für die Worte des anderen zu öffnen und sie auf sich wirken zu lassen. Die meisten öffnen sich aber gar nicht, sondern lauern in einer Art Verteidigungs- oder Abwehrposition, checken die Botschaften der anderen auf eventuell vorhandene Angriffe ab und gehen sofort zum Gegenangriff über, sobald sie meinen, etwas gegen sie gerichtetes heraus gehört zu haben. Sie wissen nicht, dass sie nur ihrer eigenen Interpretation erliegen. Wirkliches Zuhören interpretiert nicht, sondern nimmt einfach nur auf, ohne sofort auf die Botschaften reagieren zu müssen. Das ist keine leichte Übung. Wer das noch nie bewusst geübt hat, weiß gar nicht, was es heißt, anderen zuzuhören. Ein schweres Defizit im Umgang mit anderen Menschen.

Nicht von sich reden / bei sich bleiben können
Ein kleines Beispiel aus meinem heutigen Twitterstream: Da schrieb jemand, die „…Leute twittern über Missstände, handeln aber nicht“. Der erste Teil des Satzes ist eine Feststellung, der zweite eine Unterstellung (ganz abgesehen davon, dass auch twittern eine Handlung ist). Wer so etwas sagt/schreibt, bleibt nicht bei sich, sondern spricht von anderen/über andere/gemeindet andere mit ein. Wer nicht bei sich bleibt und andere Menschen in seine Aussagen ungefragt einbezieht, handelt übergriffig. Jeder Übergriff, und sei er noch so subtil, geht immer auf Kosten anderer. Das kann auch ein Witz sein. Deshalb ist es so wichtig, zu unterscheiden, was einen selbst bewegt und dem, was nur andere von sich sagen können und wollen. Feine Unterschiede? Ja, aber elementar.

Urteilen und (ab)werten
Urteile sind meistens mit Abwertung verbunden. Andere Menschen abzuwerten dient nur dem Zweck, sich selbst aufzuwerten. Insofern sind Verurteilungen anderer in Wirklichkeit Selbstverurteilungen. Doch man kann an seinem eigenen Selbstwertgefühl arbeiten, und je mehr man davon erlangt, desto weniger wird man Urteile und Abwertungen nötig haben.

Daher ist es wichtig, sich immer wieder sein eigenes Verhalten vor Augen zu führen: Rede ich gerade von mir oder bin ich dabei, über andere ein Urteil zu sprechen? Salopp ausgedrückt, sie in bestimmte Schubladen zu stecken? Auch dieses Verhalten ist übergriffig. Menschen, die von anderen in Schubladen gesteckt werden, können nichts dagegen tun außer eine Klarstellung zu versuchen. Wenn der andere Mensch geübt ist im Reflektieren, wird er sein Urteil revidieren. Aber das ist selten. Deshalb für alle Menschen, die sich in Schubladen gesteckt fühlen und über die immer wieder geurteilt wird: Es hat nicht das Geringste mit euch zu tun. Ihr wisst es sowieso besser.

Projektionen
Die Projektion beschreibt das unbewusste Verantwortlichmachen anderer für eigene Defizite und Gefühle aufgrund übergroßer Ängste vor der eigenen Verantwortung, die ein Abwehrmechanismus ist. Interessant und auffällig an projizierenden Menschen ist, dass sie exakt das, was sie anderen vorwerfen, selbst tun, häufig im selben Satz oder Atemzug. Je heftiger die Projektion, desto mehr kann davon ausgegangen werden, dass bei der Person genau die Defizite zu finden sind, die sie bei anderen sieht. Wir sind alle nicht frei davon und projizieren ganz gerne mal unangenehme Gefühle in unserem Inneren auf sich anbietende Mitmenschen. Man kann sie aber entlarven und sich darin üben, dieses ungesunde Verhalten, das Beziehungen extrem belasten und schwere soziale Konflikte nach sich ziehen kann, zu verlernen. Doch Projektionen auf die Schliche zu kommen setzt ein hohes Maß an Selbstreflexion vorraus und erfordert jahrelanges Üben.

Mit zweierlei Maß messen
„Was für mich gilt, das gilt für dich noch lange nicht“. So funktioniert aber die Begegnung auf Augenhöhe nicht. Viele messen unbewusst mit zweierlei Maß, gestehen sich selbst bestimmte Freiheiten, Unzulänglichkeiten, Menschlichkeiten zu. Doch andere müssen sich, wenn sie sich genau so verhalten, strengste Urteile von ihnen gefallen lassen. Das ist sehr schön am Patriarchat der derzeitigen Gesellschaft zu beobachten: Männer dürfen vieles, was Frauen, tun sie es genau so, schärfste Kritik und Verurteilungen beschert. Auch dieses Verhalten ist ein sehr problematisches, weil es massiv irritiert und für andere nicht berechenbar ist.

Die Überzeugung, andere Menschen ändern zu können
Ein weit verbreiteter Irrtum. Vor allem ist die Annahme irrig, man könne Menschen in seinem eigenen Sinne ändern. Man hat auf andere nur dann einen gewissen Einfluss, wenn diese entscheiden, den Einfluss zuzulassen. Es kann zwar auf den ersten Blick so aussehen, als ob manche Menschen auf andere Einfluss hätten. In Wirklichkeit geschieht das oft nur deshalb, weil der andere Mensch unbewusst dem anderen Macht über sich gibt. Er handelt also gar nicht frei, sondern sieht sich innerhalb eines Machtgefüges zu einem Handeln gezwungen, das er eigentlich gar nicht will. Wird ihm dies aber eines Tages bewusst (was ihm zu wünschen ist), bricht das Gefüge wie ein Kartenhaus zusammen. Der Mensch hat die Manipulation durchschaut und wird sich ändern, aber nur in seinem eigenen Sinn- und Entwicklungsraum. Andere werden dann immer weniger Einfluss ausüben können auf ihn.

Die Überzeugung, an einem Missstand sei ausschließlich der andere Schuld
Jeder hat einen Anteil an einer Situation. Diese Tatsache ist aber den wenigsten Menschen bewusst. Unterschiedlich ist nur die Größe des Anteils. Und wenn der Anteil nur der ist, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Aber das ist nicht das Problematische. Problematisch ist, dass viele Menschen ihren Anteil leugnen oder gar nicht erkennen, ja gar nicht wissen, dass sie überhaupt einen Anteil haben. Die größten Anteilleugner sind die, die oft auch den größten Anteil haben.
(Update: Als ich dies schrieb, hatte ich den Begriff Victimblaming, also Täter-Opfer-Umkehr oder Schuldumkehr noch nicht gehört. Heute weiß ich, dass ich nicht für alles verantwortlich gemacht werden kann, was mir passiert. Dies gilt insbesondere für Gewalt, auch verbale.)

Beleidigte-Leberwurst-Verhalten
Eine der unangenehmsten Verhaltensweisen. Menschen, die ständig wegen irgend etwas beleidigt sind, sind für ihre Mitmenschen extrem anstrengend. Sie sind auch nicht in der Lage, ihr Verhalten zu reflektieren, sondern machen andere für ihre eigenen Fehlverhalten verantwortlich. Woran kann man dieses Verhalten erkennen? Es gibt einen Unterschied zwischen beleidigt sein und zutiefst in der Seele verletzt sein: Das erste ist eine Kränkung des Egos aus einem Defizit heraus, das zweite eine Verletzung der Person in ihrer Würde. Ich sehe auch einen Unterschied zwischen Kränkung und Verletzung: Kränkung ist oberflächlich, hat ausschließlich etwas mit der gekränkten Person zu tun und nichts mit der, die versehentlich die Kränkung ausgelöst hat (für die eigenen Fettnäpfchen ist jede selbst verantwortlich). Eine Verletzung der Würde ist eine von außen zugefügte Unmenschlichkeit, sei es bewusst oder unbewusst.

Die Unkenntnis, für seine Sicht der Dinge verantwortlich zu sein
Viele wissen nicht, dass sie die Welt mit ihren eigenen Augen sehen, und dass diese Sicht ausschließlich ihre eigene ist. Es ist nicht die Sicht der anderen, aber für die anderen gilt diese Tatsache genau so. Jeder Mensch bezieht einen Standpunkt, von dem aus er die Welt betrachtet. Das geschieht zunächst unbewusst aufgrund angelernter Überzeugungen. Entwickelt der Mensch sich weiter, erkennt er irgendwann, dass er seinen Standpunkt wechseln kann, dass er auch die Sicht von anderen einnehmen kann (über den Tellerrand blicken).

Je mehr Menschen sich also bewusst werden, dass sie eine ganz bestimmte Perspektive einnehmen, dass sie sich diese selbst aussuchen und dass sie jederzeit die Möglichkeit haben, sie zu wechseln, desto fähiger werden sie, mit den Standpunkten anderer offener und gelassener umzugehen.

Die Unkenntnis, die Botschaften, die man erhält, in eigenem Sinne zu interpretieren und somit misszuverstehen
Der Empfänger entscheidet, wie er eine Botschaft verstanden haben will. Der Sender ist für seine Botschaft verantwortlich, aber es gibt keine Garantie dafür, dass sie in seinem Sinne verstanden wird. Sobald die Botschaft den Sender verlässt und einen Empfänger erreicht, übernimmt der Empfänger die Verantwortung dafür, was er mit ihr anfängt. Er kann sie z. B. ausfiltern, weil sie ihn nicht betrifft. Oder am Rande berühren. Oder total missverstehen. Oder aber voll treffen. Hier greift wieder das Prinzip der Resonanz: Botschaften werden gehört, wenn die Resonanzen im Frequenzbereich des Empfängers liegen. Sonst verhallt sie ungehört, unverstanden.

Zum Schluss als Beispiel ein Tweet aus meiner Timeline aus der jüngsten Zeit, der von den Aussagen her problematisch ist. Ich werde mal die Teile analysieren, sie auf andere Menschen irritierend wirken:

„Natascha Kampusch nervt. Die ist kein Opfer, die ist geldgeil. Nach 8 Jahren interessiert das kein Schwein mehr.“

„Natascha Kampusch nervt.“
Das ist eine Behauptung, die alle anderen Menschen mit einbezieht, weil sie ohne Bezug einfach so im Raum steht. Dabei kann der Kommentator gar nicht wissen, ob sie auch andere Menschen nervt. Richtig (im Sinne von unproblematisch) hieße der Satz: „Natascha Kampusch nervt mich.“ So eine Aussage ist akzeptabel, die Aussage bezieht sich nur auf den, der sie sagt, und gemeindet nicht unterschwellig alle anderen Menschen mit ein. Die haben die Chance, das zur Kenntnis zu nehmen, wissen, dass es nichts mit ihnen zu tun hat und können ihre eigene Sicht der Dinge daneben stehen lassen, ohne in Versuchung zu kommen, sie rechtfertigen zu müssen.

„Die ist kein Opfer“
Das ist schlicht und einfach eine Falschaussage. Natürlich ist sie ein Opfer einer jahrelangen Entführung gewesen. Negierung und Leugnung ganz offensichtlicher Tatsachen dienen oft dazu, irgend ein Defizit bei sich selbst nicht wahrnehmen zu wollen.

„die ist geldgeil.“
Ausschließlich eine Behauptung und vor allem eine Unterstellung. Der Kommentator kann nicht wissen, wie Natascha Kampusch zu Geld steht. „Geldgeil“ ist zudem eine Abwertung und unterstellt dem Opfer, ihr Opfersein aus niederen Beweggründen selbst inszeniert zu haben.

„Nach 8 Jahren interessiert das kein Schwein mehr.“
Richtig hieße der Satz: „Nach 8 Jahren interessiert mich das nicht mehr.“ Das wäre in Ordnung, der Kommentator spricht von sich. Doch von sich auf andere schließen, und zwar in einer Weise, die auch nur Abwertung erkennen lässt (nicht „das interessiert niemanden“ sondern „das interessiert kein Schwein“, nicht mal Schweine interessieren sich also noch für das Thema), macht diese Aussage problematisch.

Mir ist bewusst, dass all diese Dinge viel Feingefühl und auch jahrelange Übung erfordern, um sie überhaupt wahrnehmen zu können. Doch sie sind unglaublich wirksam. Wer nach und nach lernt, diese Mechanismen zu durchschauen und auch selbst entsprechend zu handeln, tut nicht nur sehr viel für sich selbst, sondern trägt maßgeblich zu einem besseren Miteinander bei.

Begegnung auf Augenhöhe

Dass ich mich eines Tages als bekennende Feministin bezeichnen würde, hätte ich bis vor kurzem noch nicht gedacht. Weil die Probleme, die ich bisher mit mir und anderen Menschen hatte, zwar durchaus etwas damit zu tun haben, dass ich eine Frau bin. Ich hielt sie aber eher einfach für zwischenmenschliche Probleme. Nun sind Probleme zwischen Männern und Frauen ja durchaus zwischenmenschliche, sind wir ja doch alle Menschen. Dass es aber ganz bestimmte Probleme nur deshalb gibt, weil unsere Gesellschaft eine patriarchalische ist, weil es ein Machtgefälle gibt zwischen Männern und Frauen und weil die ganz selbstverständliche Privilegierung der Männer und die Unterprivilegierung der Frauen derart massiv und unsichtbar verankert ist, habe ich bisher noch nicht so grundlegend wahrgenommen. Das heißt, doch, aber ich hielt das für unveränderbar, eine Tatsache, die ich sowieso nicht ändern könne und die ich hinnehmen müsse. Ich kämpfte immer nur in meinem eigenen kleinen Alltag gegen meine eigenen kleinen „Problemchen“ im Zwischenmenschlichen und dachte lange Zeit, ja, so sind sie, die Menschen, ich kann nichts daran ändern, ich kann nur für mich bestimmte Dinge ändern und an meinen eigenen anerzogenen Überzeugungen und Verhaltensmustern arbeiten, um in der Welt etwas zu verändern. Die anderen kann ich nicht ändern, das müssen sie für sich selbst erkennen und tun.

Nicht, dass diese Erkenntnis keine Gültigkeit hätte, und nicht, dass mir sehr wohl aufgefallen ist, wie wenige Menschen dies begriffen haben. Doch in welchem Ausmaß das der Fall ist und wie ungleich verteilt auf die Geschlechter, das hat mir erst die Aufschreidebatte deutlich vor Augen geführt.

Wie unbewusst viele Menschen, in der Mehrzahl Männer (ich kenne aber auch eine ganze Menge Frauen, um gleich dem Pauschalisierungsvorwurf den Wind aus den Segeln zu nehmen) durch das Leben gehen, fiel mir immer deutlicher auf, je mehr ich mich selbst von meiner eigenen Unbewusstheit entfernte. Ich machte mich auf den Weg zu mir selbst, und das war ein harter Weg.

Jetzt fällt mir wieder ein, wie oft ich mich in Diskussionen, in Erlebnissen, in Kommunikationen mit anderen Menschen aus jedem Umfeld über gehörte Worte geärgert habe. Wo ich anfangs noch nicht einmal wusste, was eigentlich die Quelle meines Ärgers war. Situationen, in denen ich mich nicht ernst genommen fühlte, in denen ich das Gefühl hatte, man hat mir gar nicht zugehört, man wolle mir beweisen, dass meine Sicht der Dinge falsch ist, in denen man mich belehrte, besserwisserisch über den Mund fuhr, Dinge unterstellte, mich wie ein kleines dummes Mädchen behandelte oder als sei ich geistig zurück geblieben. Notsituationen, in denen man mir nicht zur Seite stand, sondern mich im Regen stehen ließ und mir die Solidarität verweigerte. Kurz, Situationen, in denen mir meine Mitmenschen nicht auf Augenhöhe begegneten.

Auf Augenhöhe begegnen bedeutet, sich für den anderen Menschen und seinen Standpunkt, seine Sicht der Dinge zu öffnen, ohne seinen eigenen Standpunkt in Frage zu stellen, sondern als gleichberechtigt neben dem der anderen stehen lassen zu können. Viele können dies aber nicht. Entweder, sie halten ihren für den einzig richtigen und die der anderen für falsch, krank, verwirrt, mindestens korrekturbedürftig, oder sie sind im Grunde ihres Herzens davon überzeugt, dass sie selbst keinen haben dürfen. Ist es ein Wunder, dass ich bei den überzeugten Standpunktverfechtern hauptsächlich Männer antraf und unter den verzeifelten Standpunktsuchern oftmals Frauen? Angesichts der im Patriarchismus verankerten Gesellschaft sicher nicht.

Ich selbst habe damit angefangen, für mich in bestimmten Dingen erst einmal eigene Standpunkte zu definieren. Allein das war schwer genug, und ich erkannte, dass die Unkenntnis meiner eigenen Ansichten ein schweres Defizit ist, das meiner persönlichen Entwicklung im Weg stand, und das es dringend auszumerzen galt. Ich kannte mich praktisch selbst gar nicht. Ich stellte fest, dass viele meiner Ansichten, von denen ich glaubte, dass sie richtig und gut waren und meine ureigenste Persönlichkeit widerspiegeln, in Wirklichkeit nur übernommene Werte und Überzeugungen von anderen Menschen waren. Oft wurzelten sie in meiner frühesten Kindheit. Viele kamen später dazu, aus der Schule, aus dem Freundeskreis, aus dem Studium, aus dem Berufsleben. Diese alten Muster aufzubrechen erfordert gerade am Anfang, wenn die Fassade zu bröckeln beginnt (wenn sie es denn tut, und das ist ein unglaublicher Glücksfall, viele Menschen erleben das nicht einmal), unendlich viel Kraft und Mut und Durchhaltevermögen, denn es kommt einem so vor, als ob nichts mehr so ist wie es mal war. Jeglicher Halt, von dem man glaubte, ihn zu haben, löst sich in Luft auf. Doch es gibt kein Zurück mehr, das Neue bahnt sich seinen Weg und fegt die Altlasten hinweg. Auch wenn die massivsten und einengendsten Fesseln gerade am Anfang eines solchen (sehr schmerzhaften) Entwicklungssprungs (ich sage heute: Der Sprung zum wirklich erwachsenen Menschen) gesprengt werden, ist es doch ein lebenslanger Prozess. Und so ist es kein Wunder, dass ich auch heute noch plötzlich mit irgendwelchen meiner alten angelernten Überzeugungen konfrontiert werde. Ich kenne das aber schon und kann inzwischen gut damit umgehen. In dem Moment wird es Zeit für mich, sie abzulegen.

Meine alten Verhaltensmuster und Überzeugungen haben natürlich damit zu tun, dass ich eine Frau bin. Ich habe alle Klischees, die in der Überzeugung meiner Eltern und Großeltern und Verwandten wurzelten und die sich diese nicht bewusst gemacht haben, übernommen (emotionales Erbe nennt man das), und diese waren und sind ein Abbild der Gesellschaft.

Sensibilisiert durch jahrelanges Training, unterstützt von externer Hilfe (allein schafft das kaum jemand), mir diese Dinge immer wieder vor Augen zu führen, mein eigenes Verhalten und meine Sicht der Dinge immer wieder zu reflektieren, kann ich heute sehen, welche problematischen Verhaltensweisen dazu führen, dass Beziehungen scheitern, dass Menschen sich manipulieren lassen, dass Frauen so oft von Männern so schlecht und übergriffig behandelt werden. Ich schreibe dazu später noch genaueres. Oft habe ich meine Erkenntnisse in Postings und Kommentaren in sozialen Netzwerken geteilt. Ich erntete dafür von gönnerhaftem Schulterklopfen über sorgfältig ausgearbeitete Gegenbeweise bis hin zur vehementen Ablehnung und Abwertung, wütenden Beschimpfungen und Vorwürfen wie Überheblichkeit, Anmaßung, Bigotterie usw. auch viel Zuspruch.

Es geht das in Resonanz, wofür ein Resonanzraum vorhanden ist. Dass ein großer Resonanzkörper gerade zum Schwingen gebracht wurde und möglicherweise einen für bestimmte (privilegierte) Menschen empfindlich schmerzhaften Umbruch zur Folge hat, dafür gibt es jetzt Anzeichen. Ich hoffe, sie trügen nicht.