Begegnung auf Augenhöhe

Dass ich mich eines Tages als bekennende Feministin bezeichnen würde, hätte ich bis vor kurzem noch nicht gedacht. Weil die Probleme, die ich bisher mit mir und anderen Menschen hatte, zwar durchaus etwas damit zu tun haben, dass ich eine Frau bin. Ich hielt sie aber eher einfach für zwischenmenschliche Probleme. Nun sind Probleme zwischen Männern und Frauen ja durchaus zwischenmenschliche, sind wir ja doch alle Menschen. Dass es aber ganz bestimmte Probleme nur deshalb gibt, weil unsere Gesellschaft eine patriarchalische ist, weil es ein Machtgefälle gibt zwischen Männern und Frauen und weil die ganz selbstverständliche Privilegierung der Männer und die Unterprivilegierung der Frauen derart massiv und unsichtbar verankert ist, habe ich bisher noch nicht so grundlegend wahrgenommen. Das heißt, doch, aber ich hielt das für unveränderbar, eine Tatsache, die ich sowieso nicht ändern könne und die ich hinnehmen müsse. Ich kämpfte immer nur in meinem eigenen kleinen Alltag gegen meine eigenen kleinen „Problemchen“ im Zwischenmenschlichen und dachte lange Zeit, ja, so sind sie, die Menschen, ich kann nichts daran ändern, ich kann nur für mich bestimmte Dinge ändern und an meinen eigenen anerzogenen Überzeugungen und Verhaltensmustern arbeiten, um in der Welt etwas zu verändern. Die anderen kann ich nicht ändern, das müssen sie für sich selbst erkennen und tun.

Nicht, dass diese Erkenntnis keine Gültigkeit hätte, und nicht, dass mir sehr wohl aufgefallen ist, wie wenige Menschen dies begriffen haben. Doch in welchem Ausmaß das der Fall ist und wie ungleich verteilt auf die Geschlechter, das hat mir erst die Aufschreidebatte deutlich vor Augen geführt.

Wie unbewusst viele Menschen, in der Mehrzahl Männer (ich kenne aber auch eine ganze Menge Frauen, um gleich dem Pauschalisierungsvorwurf den Wind aus den Segeln zu nehmen) durch das Leben gehen, fiel mir immer deutlicher auf, je mehr ich mich selbst von meiner eigenen Unbewusstheit entfernte. Ich machte mich auf den Weg zu mir selbst, und das war ein harter Weg.

Jetzt fällt mir wieder ein, wie oft ich mich in Diskussionen, in Erlebnissen, in Kommunikationen mit anderen Menschen aus jedem Umfeld über gehörte Worte geärgert habe. Wo ich anfangs noch nicht einmal wusste, was eigentlich die Quelle meines Ärgers war. Situationen, in denen ich mich nicht ernst genommen fühlte, in denen ich das Gefühl hatte, man hat mir gar nicht zugehört, man wolle mir beweisen, dass meine Sicht der Dinge falsch ist, in denen man mich belehrte, besserwisserisch über den Mund fuhr, Dinge unterstellte, mich wie ein kleines dummes Mädchen behandelte oder als sei ich geistig zurück geblieben. Notsituationen, in denen man mir nicht zur Seite stand, sondern mich im Regen stehen ließ und mir die Solidarität verweigerte. Kurz, Situationen, in denen mir meine Mitmenschen nicht auf Augenhöhe begegneten.

Auf Augenhöhe begegnen bedeutet, sich für den anderen Menschen und seinen Standpunkt, seine Sicht der Dinge zu öffnen, ohne seinen eigenen Standpunkt in Frage zu stellen, sondern als gleichberechtigt neben dem der anderen stehen lassen zu können. Viele können dies aber nicht. Entweder, sie halten ihren für den einzig richtigen und die der anderen für falsch, krank, verwirrt, mindestens korrekturbedürftig, oder sie sind im Grunde ihres Herzens davon überzeugt, dass sie selbst keinen haben dürfen. Ist es ein Wunder, dass ich bei den überzeugten Standpunktverfechtern hauptsächlich Männer antraf und unter den verzeifelten Standpunktsuchern oftmals Frauen? Angesichts der im Patriarchismus verankerten Gesellschaft sicher nicht.

Ich selbst habe damit angefangen, für mich in bestimmten Dingen erst einmal eigene Standpunkte zu definieren. Allein das war schwer genug, und ich erkannte, dass die Unkenntnis meiner eigenen Ansichten ein schweres Defizit ist, das meiner persönlichen Entwicklung im Weg stand, und das es dringend auszumerzen galt. Ich kannte mich praktisch selbst gar nicht. Ich stellte fest, dass viele meiner Ansichten, von denen ich glaubte, dass sie richtig und gut waren und meine ureigenste Persönlichkeit widerspiegeln, in Wirklichkeit nur übernommene Werte und Überzeugungen von anderen Menschen waren. Oft wurzelten sie in meiner frühesten Kindheit. Viele kamen später dazu, aus der Schule, aus dem Freundeskreis, aus dem Studium, aus dem Berufsleben. Diese alten Muster aufzubrechen erfordert gerade am Anfang, wenn die Fassade zu bröckeln beginnt (wenn sie es denn tut, und das ist ein unglaublicher Glücksfall, viele Menschen erleben das nicht einmal), unendlich viel Kraft und Mut und Durchhaltevermögen, denn es kommt einem so vor, als ob nichts mehr so ist wie es mal war. Jeglicher Halt, von dem man glaubte, ihn zu haben, löst sich in Luft auf. Doch es gibt kein Zurück mehr, das Neue bahnt sich seinen Weg und fegt die Altlasten hinweg. Auch wenn die massivsten und einengendsten Fesseln gerade am Anfang eines solchen (sehr schmerzhaften) Entwicklungssprungs (ich sage heute: Der Sprung zum wirklich erwachsenen Menschen) gesprengt werden, ist es doch ein lebenslanger Prozess. Und so ist es kein Wunder, dass ich auch heute noch plötzlich mit irgendwelchen meiner alten angelernten Überzeugungen konfrontiert werde. Ich kenne das aber schon und kann inzwischen gut damit umgehen. In dem Moment wird es Zeit für mich, sie abzulegen.

Meine alten Verhaltensmuster und Überzeugungen haben natürlich damit zu tun, dass ich eine Frau bin. Ich habe alle Klischees, die in der Überzeugung meiner Eltern und Großeltern und Verwandten wurzelten und die sich diese nicht bewusst gemacht haben, übernommen (emotionales Erbe nennt man das), und diese waren und sind ein Abbild der Gesellschaft.

Sensibilisiert durch jahrelanges Training, unterstützt von externer Hilfe (allein schafft das kaum jemand), mir diese Dinge immer wieder vor Augen zu führen, mein eigenes Verhalten und meine Sicht der Dinge immer wieder zu reflektieren, kann ich heute sehen, welche problematischen Verhaltensweisen dazu führen, dass Beziehungen scheitern, dass Menschen sich manipulieren lassen, dass Frauen so oft von Männern so schlecht und übergriffig behandelt werden. Ich schreibe dazu später noch genaueres. Oft habe ich meine Erkenntnisse in Postings und Kommentaren in sozialen Netzwerken geteilt. Ich erntete dafür von gönnerhaftem Schulterklopfen über sorgfältig ausgearbeitete Gegenbeweise bis hin zur vehementen Ablehnung und Abwertung, wütenden Beschimpfungen und Vorwürfen wie Überheblichkeit, Anmaßung, Bigotterie usw. auch viel Zuspruch.

Es geht das in Resonanz, wofür ein Resonanzraum vorhanden ist. Dass ein großer Resonanzkörper gerade zum Schwingen gebracht wurde und möglicherweise einen für bestimmte (privilegierte) Menschen empfindlich schmerzhaften Umbruch zur Folge hat, dafür gibt es jetzt Anzeichen. Ich hoffe, sie trügen nicht.