#Aufschrei, Feminismus und Solidarität – ein Jahresrückblick

Als es Anfang des Jahres der Hashtag #aufschrei bis in die Medien und die Initiatorinnen in die Talkshows dieser schafften, erwachte in mir der Feminismus. Auch dieses Blog ist ein Resultat davon. Die Erlebnisse des alltäglichen Sexismus tausender Frauen, nicht nur getwittert unter dem Hashtag, sondern noch detaillierter geschildert auf www.alltagssexismus.de, erschütterten mich zutiefst, denn mir wurde zum ersten Mal sehr deutlich und schmerzlich bewusst, was es wirklich heißt, in dieser Gesellschaft eine Frau zu sein. Eine Frau zu sein, ihr Frausein auszuleben als Mutter zweier Kinder; die Spagate, zu denen sie gezwungen ist, wenn sie die Lebensbereiche Berufsleben und Familie unter einen Hut zu bringen versucht. Zu erkennen, welche Art von Hindernissen ihr im Weg standen, die nichts, absolut nichts mit meiner Qualifikation zu tun hatten. Mir fielen immer mehr Erlebnisse ein, die belegten, dass ich mich jahrzehntelang abstrampelte, um in dieser Gesellschaft als Mensch und Frau anerkannt und respektiert zu werden, was aber in ganz vielen Fällen nicht gegeben war. Dennoch glaubte ich daran, eine emanzipierte Frau zu sein, denn ich habe Abitur machen und studieren können in einem männlich dominierten Bereich. Ich arbeitete sogar zeitweise als Schichtleiterin in der Produktion chemischer Stoffe, was nur einer von hundert Ingenieurinnen gelingen dürfte. Ich stand meine Frau in dem rauen Arbeitsklima fast nur unter Männern und sah mich deshalb keineswegs als unterprivilegiert an, sondern längst als gleichberechtigt und auf Augenhöhe mit meinen männlichen Kollegen, Vorgesetzten und Schichtarbeitern.

Dass ich mir in die Tasche log, belegen diese Tatsachen: Mein männlicher Kollege der anderen Schicht verdiente trotz völlig gleichwertiger Qualifikation und gleicher Aufgaben mehr Geld. In dem rauen Arbeitsklima ging es höchst sexistisch zu, was ich aber ausblendete. Versuchte ich, meine Autorität durchzusetzen, galt ich nicht als souverän, sondern hysterisch. Anstatt sich meinen Anweisungen zu fügen, johlten die Arbeiter vor Hohn. Einer hat mich mal, weil es in einem Kessel eine Verpuffung gab und er daneben stand und sich sehr erschrocken hat (die Situation war nicht gefährlich und ich konnte gar nichts dafür), mit übelsten Schimpfwörtern angeschrien, mich bedroht und beleidigt. Ich erwog eine Verwarnung, die mir jedoch von meinen Vorgesetzten ausgeredet wurde, man wolle schließlich keinen Streit, und sicher war es ja auch kaum der Rede wert. Ich bin sicher, die Sache wäre für diesen Arbeiter weniger glimpflich ausgegangen, wäre ich ein Mann. In erster Linie deshalb, weil man mir dann eher geglaubt hätte anstatt mir als Frau von vornherein zu unterstellen, da wohl etwas missverstanden oder emotional überreagiert zu haben.

Später als Ehefrau und Mutter war ich anderen Diskriminierungen ausgesetzt, und ich nenne sie heute so, weil sie es sind. Ich wollte es nur lange Zeit nicht wahrhaben.

Feminismus war also nie mein Thema. Ich erinnere mich sogar an diesen Schlagabtausch im Fernsehen von Verona Feldbusch mit Alice Schwarzer, wo ich eindeutig auf der Position von Verona Feldbusch stand, nicht auf der von Schwarzer, weil ich sie vertrocknet und gestrig fand. Heute sehe ich sie in einem ganz anderen Licht. In meinem Leben war Feminismus also nie Tradition, für mich ist er neu. Mein Feminismus wird demnächst ein Jahr alt.

Ich gehöre also gar nicht zu den so genannten Alt-Feministinnen, sondern ich bin einfach eine ältere Frau, die spät zum Feminismus gefunden hat. Dennoch werde ich wohl, gerade von den „jungen Feministinnen“, in diese Schublade gesteckt, wobei ich noch nicht einmal weiß, was das eigentlich bedeutet. Was ist an Alt-Feministinnen denn so verachtenswert? Dabei gab es mal eine Zeit, in der ich diesen jungen Frauen sehr dankbar war, dass sie den in dieser Gesellschaft verankerten Sexismus aufzeigten und sichtbar machten (und bin es immer noch, nicht, dass jetzt Missverständnisse aufkommen!). Es gab eine Zeit, da folgte mir auf Twitter sowohl @marthadear als auch @Faserpiratin, @totalreflexion und @vonhorst. Irgendwann, so in der Sommerzeit, wurde ich dann von einigen wieder verlassen. Zu der Zeit war ich nicht in der Stimmung, mich intensiv mit feministischen Themen auseinander zu setzen. Doch es kam der Herbst, und mit ihm der Appell von Alice Schwarzer gegen Prostitution, den ich erst gar nicht so richtig mitbekam. Als ich ihn realisierte, fühlte ich mich sofort angesprochen und verlinkte oft dahin. Dass mich daraufhin viele meiner FollowerInnen, von denen ich bis dahin viel hielt, entfolgten, hat mich zunächst nur irritiert. Ich hatte doch nur deutlich meine Position gegen Prostitution verlauten lassen, warum entfolgten mich denn jetzt ausgerechnet die FeministInnen?

In einer Gruppe auf Facebook schrieb ich ziemlich enttäuscht und ernüchtert diesen Satz: „Wenn Feminismus bedeutet, sich für die Prostitution einzusetzen, distanziere ich mich ganz eindeutig davon“. Daraufhin wurde ich dort angegriffen, mir wurde unterstellt, mich nicht solidarisch mit meinen „Schwestern“ in der SexworkerInnenszene zu zeigen, und von einer bekannten und viel bloggenden Feministin wurde ich öffentlich zurecht gewiesen, wie ich mit meiner Einstellung doch pauschal die ganze Prostitution und mit ihr die Prostituierten verteufeln würde. Auf Twitter sah ich mich immer öfter auch Angriffen der Prostitutionslobby ausgesetzt. Für mich war das schlimmer zu ertragen als die Beleidigungen und Beschimpfungen der Maskutrolle unter #Aufschrei und führte am Ende dazu, dass ich meinen Account aufgab, mir einen neuen anonymen zulegte und nur noch geschützt twittere. Ich twittere geschützt für die wenigen FollowerInnen, die meine Ansichten teilen und verstanden haben, nicht mehr öffentlich, um mich nicht mehr den Angriffen auszusetzen. Mundtoter geht es eigentlich gar nicht. Aber es gibt ja noch dieses Blog.

Doch jetzt werde ich euch, den „jungen FeministInnen“ (wer sich angesprochen fühlt, ist gemeint), mal die mir eingeforderte Solidarität ein für alle Mal um die Ohren hauen. Denn eure eigene ist keinen Pfifferling wert. Ihr wollt also den wenigen SexworkerInnen, denen es mit ihrem „Beruf“ gut geht und die sich nicht ausgebeutet fühlen, nicht die Solidarität verweigern, dafür aber allen anderen Frauen, die nicht eure Ansicht teilen, sich aber die ganze Zeit für eine bessere Gesellschaft mit Hilfe von feministischen Gesichtspunkten eingesetzt haben? Alle Frauen, die ich jetzt als eindeutige Gegnerinnen der Prostitution kenne, steckt ihr in die Schublade #notmyfeminism? Und ihr scheut euch auch nicht davor, diese Frauen sogar zu blocken und sie damit genau so zu behandeln wie die schlimmsten Maskutrolle? Ja, habt ihr denn immer noch nicht begriffen, dass Feminismus und Prostitution gar nicht zusammen gehen können, dass es ein Widerspruch in sich ist, sich einerseits feministisch zu engagieren, aber andererseits die Prostitution gut zu heißen? Wann merkt ihr endlich, dass ihr euch an der Person Alice Schwarzer festbeißt und ihr immer wieder unterstellt, mit ihrem Appell nur ihr kleines Buch promoten zu wollen? Merkt ihr denn wirklich nicht, dass sie genau für die Sache kämpft, für die ihr auch kämpft, dies aber schon viele Jahrzehnte länger und wesentlich weitsichtiger und reflektierter? Merkt ihr nicht, dass ihr all den Frauen, die sich im Zuge der #Aufschrei-Debatte mit euch solidarisierten, ihre Geschichten auf alltagssexismus.de veröffentlichten, sich mit euch engagierten, dem Sexismus dieser Gesellschaft endlich Einhalt zu gebieten, Unrecht tut, in dem ihr sie jetzt einfach ausgrenzt, ignoriert und ihr Engagement nicht mehr wertschätzt? Merkt ihr nicht, dass ihr der Prostitutionslobby auf den Leim gegangen seid und damit eure eigene viel versprechende Bewegung unterwandert und ad absurdum geführt, kaputt gemacht habt? Habt ihr denn wirklich gar nichts gelernt und begriffen? Statt dessen faselt ihr von Selbstbestimmung und freiem Willen und seht nicht, dass es in der Prostitution weder das eine noch das andere gibt. Ihr glaubt mir nicht? Dann lest doch einmal die reflektierten und sehr klugen Worte dieser ehemaligen Sexworkerin.

Ich fühle mich von euch jedenfalls nicht mehr repräsentiert. Ich will eine Gesellschaft ohne Prostitution, und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sie möglich ist, nämlich genau dann, wenn sowohl das Patriarchat als auch der Kapitalismus abgeschafft sind. Ich halte diese beiden Systeme für die Ursache der Prostitution. Aber ich bin da nicht die einzige. Es gibt mit mir noch viele tausende Menschen, die genau das auch wollen und sich zumindest bis dahin, bis sich mit Patriarchat und Kapitalismus die Prostitution ganz von allein erledigt hat, für ein Verbot einsetzen. Mindestens jene, die den Appell von Alice Schwarzer unterschrieben haben und denen nicht nur von der Prostitutionslobby der gesunde Menschenverstand abgesprochen wird, was mich in dem Fall nicht die Bohne kümmert. Sondern ausgerechnet und fatalerweise von jenen, deren Solidarität ich mir mal sicher war. Was mir in dem Fall einfach nur weh tut.

Begegnung auf Augenhöhe

Dass ich mich eines Tages als bekennende Feministin bezeichnen würde, hätte ich bis vor kurzem noch nicht gedacht. Weil die Probleme, die ich bisher mit mir und anderen Menschen hatte, zwar durchaus etwas damit zu tun haben, dass ich eine Frau bin. Ich hielt sie aber eher einfach für zwischenmenschliche Probleme. Nun sind Probleme zwischen Männern und Frauen ja durchaus zwischenmenschliche, sind wir ja doch alle Menschen. Dass es aber ganz bestimmte Probleme nur deshalb gibt, weil unsere Gesellschaft eine patriarchalische ist, weil es ein Machtgefälle gibt zwischen Männern und Frauen und weil die ganz selbstverständliche Privilegierung der Männer und die Unterprivilegierung der Frauen derart massiv und unsichtbar verankert ist, habe ich bisher noch nicht so grundlegend wahrgenommen. Das heißt, doch, aber ich hielt das für unveränderbar, eine Tatsache, die ich sowieso nicht ändern könne und die ich hinnehmen müsse. Ich kämpfte immer nur in meinem eigenen kleinen Alltag gegen meine eigenen kleinen „Problemchen“ im Zwischenmenschlichen und dachte lange Zeit, ja, so sind sie, die Menschen, ich kann nichts daran ändern, ich kann nur für mich bestimmte Dinge ändern und an meinen eigenen anerzogenen Überzeugungen und Verhaltensmustern arbeiten, um in der Welt etwas zu verändern. Die anderen kann ich nicht ändern, das müssen sie für sich selbst erkennen und tun.

Nicht, dass diese Erkenntnis keine Gültigkeit hätte, und nicht, dass mir sehr wohl aufgefallen ist, wie wenige Menschen dies begriffen haben. Doch in welchem Ausmaß das der Fall ist und wie ungleich verteilt auf die Geschlechter, das hat mir erst die Aufschreidebatte deutlich vor Augen geführt.

Wie unbewusst viele Menschen, in der Mehrzahl Männer (ich kenne aber auch eine ganze Menge Frauen, um gleich dem Pauschalisierungsvorwurf den Wind aus den Segeln zu nehmen) durch das Leben gehen, fiel mir immer deutlicher auf, je mehr ich mich selbst von meiner eigenen Unbewusstheit entfernte. Ich machte mich auf den Weg zu mir selbst, und das war ein harter Weg.

Jetzt fällt mir wieder ein, wie oft ich mich in Diskussionen, in Erlebnissen, in Kommunikationen mit anderen Menschen aus jedem Umfeld über gehörte Worte geärgert habe. Wo ich anfangs noch nicht einmal wusste, was eigentlich die Quelle meines Ärgers war. Situationen, in denen ich mich nicht ernst genommen fühlte, in denen ich das Gefühl hatte, man hat mir gar nicht zugehört, man wolle mir beweisen, dass meine Sicht der Dinge falsch ist, in denen man mich belehrte, besserwisserisch über den Mund fuhr, Dinge unterstellte, mich wie ein kleines dummes Mädchen behandelte oder als sei ich geistig zurück geblieben. Notsituationen, in denen man mir nicht zur Seite stand, sondern mich im Regen stehen ließ und mir die Solidarität verweigerte. Kurz, Situationen, in denen mir meine Mitmenschen nicht auf Augenhöhe begegneten.

Auf Augenhöhe begegnen bedeutet, sich für den anderen Menschen und seinen Standpunkt, seine Sicht der Dinge zu öffnen, ohne seinen eigenen Standpunkt in Frage zu stellen, sondern als gleichberechtigt neben dem der anderen stehen lassen zu können. Viele können dies aber nicht. Entweder, sie halten ihren für den einzig richtigen und die der anderen für falsch, krank, verwirrt, mindestens korrekturbedürftig, oder sie sind im Grunde ihres Herzens davon überzeugt, dass sie selbst keinen haben dürfen. Ist es ein Wunder, dass ich bei den überzeugten Standpunktverfechtern hauptsächlich Männer antraf und unter den verzeifelten Standpunktsuchern oftmals Frauen? Angesichts der im Patriarchismus verankerten Gesellschaft sicher nicht.

Ich selbst habe damit angefangen, für mich in bestimmten Dingen erst einmal eigene Standpunkte zu definieren. Allein das war schwer genug, und ich erkannte, dass die Unkenntnis meiner eigenen Ansichten ein schweres Defizit ist, das meiner persönlichen Entwicklung im Weg stand, und das es dringend auszumerzen galt. Ich kannte mich praktisch selbst gar nicht. Ich stellte fest, dass viele meiner Ansichten, von denen ich glaubte, dass sie richtig und gut waren und meine ureigenste Persönlichkeit widerspiegeln, in Wirklichkeit nur übernommene Werte und Überzeugungen von anderen Menschen waren. Oft wurzelten sie in meiner frühesten Kindheit. Viele kamen später dazu, aus der Schule, aus dem Freundeskreis, aus dem Studium, aus dem Berufsleben. Diese alten Muster aufzubrechen erfordert gerade am Anfang, wenn die Fassade zu bröckeln beginnt (wenn sie es denn tut, und das ist ein unglaublicher Glücksfall, viele Menschen erleben das nicht einmal), unendlich viel Kraft und Mut und Durchhaltevermögen, denn es kommt einem so vor, als ob nichts mehr so ist wie es mal war. Jeglicher Halt, von dem man glaubte, ihn zu haben, löst sich in Luft auf. Doch es gibt kein Zurück mehr, das Neue bahnt sich seinen Weg und fegt die Altlasten hinweg. Auch wenn die massivsten und einengendsten Fesseln gerade am Anfang eines solchen (sehr schmerzhaften) Entwicklungssprungs (ich sage heute: Der Sprung zum wirklich erwachsenen Menschen) gesprengt werden, ist es doch ein lebenslanger Prozess. Und so ist es kein Wunder, dass ich auch heute noch plötzlich mit irgendwelchen meiner alten angelernten Überzeugungen konfrontiert werde. Ich kenne das aber schon und kann inzwischen gut damit umgehen. In dem Moment wird es Zeit für mich, sie abzulegen.

Meine alten Verhaltensmuster und Überzeugungen haben natürlich damit zu tun, dass ich eine Frau bin. Ich habe alle Klischees, die in der Überzeugung meiner Eltern und Großeltern und Verwandten wurzelten und die sich diese nicht bewusst gemacht haben, übernommen (emotionales Erbe nennt man das), und diese waren und sind ein Abbild der Gesellschaft.

Sensibilisiert durch jahrelanges Training, unterstützt von externer Hilfe (allein schafft das kaum jemand), mir diese Dinge immer wieder vor Augen zu führen, mein eigenes Verhalten und meine Sicht der Dinge immer wieder zu reflektieren, kann ich heute sehen, welche problematischen Verhaltensweisen dazu führen, dass Beziehungen scheitern, dass Menschen sich manipulieren lassen, dass Frauen so oft von Männern so schlecht und übergriffig behandelt werden. Ich schreibe dazu später noch genaueres. Oft habe ich meine Erkenntnisse in Postings und Kommentaren in sozialen Netzwerken geteilt. Ich erntete dafür von gönnerhaftem Schulterklopfen über sorgfältig ausgearbeitete Gegenbeweise bis hin zur vehementen Ablehnung und Abwertung, wütenden Beschimpfungen und Vorwürfen wie Überheblichkeit, Anmaßung, Bigotterie usw. auch viel Zuspruch.

Es geht das in Resonanz, wofür ein Resonanzraum vorhanden ist. Dass ein großer Resonanzkörper gerade zum Schwingen gebracht wurde und möglicherweise einen für bestimmte (privilegierte) Menschen empfindlich schmerzhaften Umbruch zur Folge hat, dafür gibt es jetzt Anzeichen. Ich hoffe, sie trügen nicht.